Foto: Guido Mencari

Einer der großen, weithin unbedankten "Helden" der diesjährigen Festwochen ist die Wiener Rettung. Erst mit ihrem – allerdings ohrenbetäubenden -Auftauchen in den Gösserhallen ist das Drama des Menschen: sein Straucheln, Röcheln und Kollabieren, auch wirklich unwiderruflich zu Ende. "Die Metopen des Panthenon" nennt sich, ins Deutsche übersetzt, Romeo Castelluccis kleine Sterbekunde. Mit ihr biegt, prämortal erschöpft, aber noch immer quicklebendig, das ganze Festival in die Zielgerade ein.

Wiederum steht der Zuschauer zwergengleich unter seinesgleichen in einer Riesenhalle. Eine junge Frau legt sich auf den nackten Betonboden. Weiß gekleidete Sachverständige sprühen die Komparsin mit Fake-Blut aus dem Kanister ein.

Aus heiterem Himmel zum Opfer werden

Ein Geschehen, wie es sich tagtäglich tausende Male in jeder beliebigen Weltmetropole entspinnt: Ein Mensch wird aus heiterem Himmel Opfer und Objekt eines Unfallgeschehens. Der oder die Betroffene hebt zu zucken an, Züge und Bewegungen entgleisen. Die Gedärme quellen aus dem offenen Bauch, oder Säure verbrennt den Körper und das Antlitz und fügt der Unerträglichkeit des Schmerzes noch das Los der Entstellung hinzu.

Ob nun ein Infarkt den anonymen Mann im Anzug schüttelt – ein Lache falschen Urins umschließt den Kreis seines Leidens – oder ob eine junge Frau neben ihrem abgerissenen Unterschenkel schreiend aus der Ohnmacht erwacht: Stets kündigt das Signalhorn das Erscheinen des (realen) Rettungsautos an. Dreier-Gruppen von Rettungshelfern machen sich mit eiserner Ruhe an den (nicht real) Verunfallten zu schaffen.

Irgendwann stellt das Herzmessgerät seine Tätigkeit ein. Für jede und jeden der zum Tode hin Versehrten ist das Ende unumgänglich gleich: Ein weißes Leintuch wird über den oder die Verewigte(n) gebreitet. In die plötzliche Stille mischt sich eine zarte Ahnung von ewiger Ruh‘. Manchmal ist man auch nur froh, dass es vorüber ist.

Ich bin nie gewesen, aber ich bin im Werden

Ist es aber nicht. In Castelluccis szenischem Denkspiel lösen sich die frisch Verstorbenen irgendwann aus ihrer Leichenstarre und verlassen würdig schreitend den Saal. Schriftprojektionen (aus der Feder Claudia Castelluccis) hüllen das abgeebbte Geschehen in eine Flut rätselhafter Aussagesätze: "Ich bin allein, aber unter vielen." Oder: "Ich bin nie gewesen, aber im Werden begriffen."

Hinter jeder der sechs unbedingt letal endenden Szenen wird stets dieselbe Frage gestellt: "Wer bin ich?" Dem Menschsein winkt das Los des überstürzten Abschiednehmens. Nichts deutet auf Umstände hin, die auf etwas sinnfällig Bleibendes verweisen – es sei denn, man vertieft sich in die Standbilder der Kunst.

Und so erkunden Castellucci und seine Societas aus Cesena jenen heiklen Augenblick, in dem das Gespenst der Flüchtigkeit gebannt wird. Der Mensch verwandelt sich in unzerstörbaren Stein und geht auf in reine Bedeutung. Er kehrt wieder als Figur in antiken Reliefs. Dort bietet er, um sein Fleisch und Blut betrogen, Göttern und Titanen die Stirn. Auf den Zauber dieser Verwandlung insistiert Castellucci: ein Wundenlecker, der sich mit den geringen Haltbarkeitsdaten unserer zivilisatorischen Errungenschaften keinesfalls abfinden kann und will.

Eine notwendige Zumutung, ein Stück zur Zeit

Castelluccis "Le Metope del Partenone", erstaufgeführt 2015 in Basel, ist eine notwendige Zumutung: ein Stück zur Zeit, insofern es diese gegen die Zeitlichkeit eintauscht. Am Schluss tilgt ein Bürstenvehikel mit chemischer Reinigungskraft den Saft der roten Rüben vom Boden. Wundermilder Gesang schmeichelt dem Ohr. Nichts war echt in dieser Versuchsanordnung; doch sehr viel wirklicher kann Theater, das sich dem schnöden Skandal der Endlichkeit widersetzt, nicht sein. (Ronald Pohl, 8.6.2019)