STANDARD: Stimmt es noch, dass es in Wien keine Ghettos gibt? Man denke an manche Gemeindebauten mit ihren sozialen Unterschieden.

Kraus: Ich wohne selbst im 15. Bezirk und kann die Schlagzeilen mancher Medien nicht in meinem privaten Leben wiederfinden. Aber eine bald Zwei-Millionen-Stadt, die so schnell wächst wie Wien, hat einfach Reibungspunkte. Konflikte sind eine Herausforderung, die auch bedeutet, dass neue Communitys entstehen, neue Vielfalt. Man muss auch einmal sagen, dass vor allem kommunale Politiker, unabhängig welcher Couleur, 2015 Unglaubliches geschafft haben: Sehr viele Menschen sind in sehr prekären Situationen zu uns gekommen, und niemand musste im Freien schlafen, viele Leute haben eine Ausbildung, eine Chance, einen Job bekommen.

Im Gemeindebau sorgen die Wohnpartner bei Konflikten für Unterstützung.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Machen es sich NÖ-Gemeinden zu einfach, indem sie sagen, Zuwanderer sollen nach Wien, wir haben wenig Platz?

Krammer: Den Eindruck habe ich nicht. Wenn die Menschen da sind, muss man helfen. Wir haben in unserer Region Waidhofen an der Ybbs die Zwei-Prozent-Quote übererfüllt. Wir haben mit Abwanderung zu tun. Daher ist es zuträglich, wenn diese Menschen da sind, da bleiben und sich auch einbringen. Wir haben zum Beispiel seit 1998 einen Betrieb, der Asylsuchende aufnimmt, 65 Asylwerber direkt neben der dörflichen Kirche. Das führte natürlich zu Konflikten, aber es ist nie eskaliert, und wir lernten, damit umzugehen. Ich habe Integration politisch verankert, indem ich eine Stadträtin dafür gewonnen habe.

STANDARD: Herr Kraus, wie kann Wien die Integrationserfolge im Wohnbau bewahren?

Kraus: Die Zweidrittelregelung in der Wiener Bauordnung (Pflichtanteil geförderter Wohnungen bei Widmungen als Wohngebiet, Anm.) ist extrem wichtig. Es ist ein Alleinstellungsmerkmal, dass Wien den historischen Fehler, Gemeindewohnungen abzuverkaufen, nicht gemacht hat. Alle Fragen danach wiegen nicht so schwer.

STANDARD: Herr Krammer, Ihre Partei, die ÖVP, setzt sich sehr wohl für mehr Eigentum ein. Auch für eine Umwandlung von Miete in Eigentum.

Krammer: Eine Mischung ist wichtig. Gemeinden müssen natürlich ab einer gewissen Größe auch einen Pool an Wohnungen für sozial Schwächere haben. Aber die Möglichkeit, Eigentum zu schaffen, ist auch eine gewisse Motivation. Unter Mietern ist die Eigenverantwortung ein bisschen schwächer ausgeprägt.

Kraus: Ich glaube nicht, dass Eigentum mehr Eigenverantwortung bedeutet. Da unterschätzen wir kommunale Initiativen sehr. Besitz befindet sich im extremen Wertewandel, Menschen definieren sich immer mehr über Nutzung. Nehmen wir die beliebten neuen Sharingangebote als Beispiel.

Zwei Querdenker in den eigenen Reihen: Der Waidhofener Bürgermeister Werner Krammer (re.) fährt in seiner Gemeinde eine offene Willkommenspolitik. Peter Kraus, Stadtplanungssprecher der Wiener Grünen, sieht die Verbotspolitik der Stadtregierung kritisch.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Die letzte Regierung hat Gesetzesinitiativen zur Änderung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes auf den Weg gebracht. Erschwert sich dadurch die Integrationsarbeit für die Stadt?

Kraus: Die Forcierung der Privatisierung von geförderten Mietwohnungen bedeutet natürlich, dass das Wiener Modell geschwächt wird. Aber natürlich kann man als Stadt kreative Wege finden, wo das nicht mehr so leicht möglich ist. Ein Beispiel ist das Bauen im Baurecht.

STANDARD: Herr Krammer, haben die Probleme der Großstadt aus Sicht einer NÖ-Kleinstadt nichts mit den Ihren zu tun?

Krammer: Es sind andere Dimensionen. Wir können aber im Kleinen andere Lösungen finden als im großvolumigen Wohnbau. Die dörfliche Struktur bei uns lässt uns alles hemdsärmeliger angehen: Wir motivieren die Menschen, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Der Unterschied: Bei größeren Projekten braucht es Strukturen, die von oben geschaffen werden. Wir lösen Konflikte von unten herauf.

STANDARD: Ist Integration im Kleinen einfacher?

Krammer: Erfolge sind besser sichtbar, die Menschen kennen sich besser. Schöne Projekte erzeugen leichter eine Positivspirale. Etwa unsere Initiative "Café Miteinander", wo Menschen unterschiedlicher Herkunft mit Bewohnern aus der Region zusammenkommen, oder eine Jobbörse, wo wir bewusst Migranten mit Unternehmen zusammenbringen. Wir halten nach wie vor an unserer Willkommenskultur fest und stellen das bewusst auch in die Auslage. Bis jetzt habe ich wenig Gegenwind verspürt.

STANDARD: Herr Krammer, das Wort Willkommenskultur würde Ihr Bundesparteiobmann eher nicht verwenden. Wünschen Sie sich von Ihrer Partei einen anderen Kurs in der Integrationspolitik?

Krammer: Man kann auf lokaler und regionaler Ebene sehr viel bewirken. Wie mit Bevölkerungsströmen global umgegangen wird, kann ich nicht beeinflussen. Das hat unser Bundesparteiobmann im Fokus.

STANDARD: Herr Kraus, Sie sind Teil einer Stadtregierungskoalition, die auch auf Verbote, etwa das Essverbot in der U-Bahn, setzt. Das kann ein Signal an sozial Schwächere sein: Ihr müsst euch ändern, damit das Zusammenleben klappt.

Kraus: Ich habe das immer sehr kritisch gesehen. Andererseits verstehe ich in einer immer komplexer werdenden Zwei-Millionen-Stadt auch das Bedürfnis nach Regeln. Allerdings sollte man genau überlegen, welche Bahn man mit Law and Order einschlägt.

Krammer: Das ist genau der Unterschied zwischen einer Millionen- und einer Kleinstadt. 2015, als mehr Menschen nach Waidhofen gekommen sind, hatten wir Verständnis für manche Verhaltensweisen, sind in Teilen der Bevölkerung aber auch auf berechtigte Kritik gestoßen: Wenn ihr hier seid, gibt es Regeln. Wir haben im Gemeinderat einen gebürtigen Kosovo-Albaner, der sich speziell um das Thema kümmert und diese Dinge so rüberbringt, dass sie akzeptiert werden.

STANDARD: Was ist der wichtigste Beitrag, den die Wohnpolitik zur Integration leisten kann?

Kraus: Dass die Postleitzahl nichts über die Chancen im Leben aussagt. Das wirkt emanzipatorisch.

Krammer: Wir brauchen ein entspanntes Nebeneinander. Dazu muss die Architektur Integration fördern und fordern. Die Art, wie Räume gestaltet sind, wirkt auf die Nachbarschaft. Es braucht aber Kümmerer, die die Community vernetzen. Da ist die Sozialpolitik gefordert, sonst nützt das beste Wohnquartier nichts. (12.6.2019)