Hilary Hahn empfindet das Einüben der Werke von Johann Sebastian Bach als anspruchsvoll.

Konzerthaus

Wien – "Beobachtet man Kinder, wirken ihre Emotionen sehr stark und ungefiltert", sagt Hilary Hahn, während aus einem Nebenraum ihres Künstlerzimmers junge, fröhliche Stimmen zu hören sind. Die US-Geigerin hat im Konzerthaus ihre zwei Töchter dabei und kann ihre These also mit sehr mütterlichen Erfahrungen untermauern, wobei: Eigentlich geht es um sie. Einst als Wunderkind promotet, hat Hahn ihre Weltkarriere früh mit Johann Sebastian Bach begründet. Sie findet jedoch nicht, dass es zu schnell ging. Schließlich hätten eben auch junge Menschen echte, tiefe Empfindungen.

Frische Emotion

Natürlich sei ebenso richtig, dass man "keine Entwicklungsstufe zu überspringen vermag". Deswegen sei es essenziell, dass die ältere Generation auch ihre Lebenserfahrung weitergibt. "Als ich 16 war, studierte ich mit Jascha Brodsky, der noch Schüler von Eugène Ysaÿes war. Ich hatte also meine frischen Emotionen und die unschätzbare Erfahrung eines Lehrers." Als Meister Brodsky starb, sei er für Hahn das Fundament geblieben – allerdings auf einem doch sehr eigenen Weg.

Jedes Interpretenalter habe übrigens seine Spezialitäten, findet Hahn. Für einen Geiger werde es, wenn er älter wird, "immer komplexer und ernster". Er erlangt im Gegenzug jedoch weitaus mehr Autorität im Rahmen von Musikbeziehungen. "Zu Beginn fragte mich niemand, wie ich etwas spielen möchte ..."

Immer gespielt

Also doch alles etwas zu schnell, doch ein problembeladener Frühstart? "Nein! Ich habe von Anbeginn an jede Chance genutzt, Konzerte zu geben, habe immer sehr viel und gerne öffentlich gespielt. Als Studentin trachtete ich danach, für jede neu einstudierte Komposition wenigstens ein Konzert zu geben." Die Säle, in denen sie spielte, seien mit der Erfolgszeit "natürlich größer geworden, die Frequenz der Konzerte blieb aber immer ähnlich".

Treffen Wunschfantasien auf die Realität, ergibt sich dann ohnedies automatisch ein Reifungsprozess: "Wenn man sehr jung ist, träumt man natürlich auch: Ich kann mit dem, was ich täglich zum Spaß praktiziere, berühmt und top werden. Und dann passiert es: Man spielt in der Carnegie Hall. Wenn das stattgefunden hat, bemerkt man aber, dass es auch nur eine Zwischenstufe ist, dass es ein endgültiges Ankommen nicht gibt."

Vater Bach als Berg

Dies sei so – besonders, was die Vertiefung von Interpretation anbelangt. Etwa bei Bach, dessen Solowerke Hahn am Donnerstag im Wiener Konzerthaus spielen wird. "Bach hat sehr gut für die Geige komponiert, dennoch ist er sehr schwer. Zunächst fühlt er sich sogar unmöglich an. Wenn man aber über diesen Berg gekommen ist, sieht man, wie meisterhaft es ist. Man erlangt ein großes Gefühl der Freiheit."

Wie alt oder jung jemand auch ist, es gibt im Konzert auch eine Spontaneität, die nicht primär von ihr, der Interpretin Hahn, zu kommen scheint. "Ich übe immer verschiedene Varianten. Es gibt aber Dinge, die an einem bestimmten Tag offenbar so und nicht anders sein dürfen. Keine Ahnung, warum. Ich will vielleicht da etwas schneller, dort lauter spielen und an einer anderen Stelle leiser. Ich versuche es, das Stück holt mich jedoch zurück. Es will nicht so laut oder so leise sein. Es scheint, als ob die Musik ihr eigenes Momentum finden möchte."

Mit Werk verschmelzen

Von außen ist davon nichts zu spüren. Hahn schien bei ihrem letzten Wiener Bach-Abend mit den Kontrapunkten der Werke regelrecht zu verschmelzen. Die epische Bach-Chaconne setzte sie sogar an den Schluss. "Schwere Dinge spiele ich gerne als Finale. Ich weiß natürlich, an welcher Stelle ich entspannter spielen kann und wo ich müde werde." Es sei wie bei Marathonläufern: "Sie werden müde, laufen aber immer weiter, brechen durch diese Wand und bekommen neue Energie", sagt Hahn und schaut mal nach hinten, ob alles in Ordnung ist mit den Emotionen ihrer Töchter. (Ljubiša Tošić, 13.6.2019)