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In der Kritik: Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam.

Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Wie sich das Leben in Hongkong anfühlt, wenn man wenig hat, sollte Carrie Lam eigentlich wissen. Als viertes von fünf Kindern einer Arbeiterfamilie im ehemaligen Fischerviertel Wan Chai ist Hongkongs heutige Regierungschefin in armen Verhältnissen aufgewachsen.

Mit diesen Wurzeln in Verbindung zu bleiben fällt der heute 62-Jährigen schwer. Als sie im Wahlkampf für das höchste politische Amt vor zwei Jahren volksnah erscheinen wollte, zog die damalige Nummer zwei im Stadtstaat aus ihrer Residenz im Nobelviertel Peak in eine vergleichsweise bescheidene Unterkunft um. Doch dort fehlte, wie sie abends entdeckte, das Toilettenpapier. Statt einfach in einen der 24-Stunden-Supermärkte zu gehen, ließ sie sich per Taxi zu ihrer alten Adresse kutschieren und holte sich ein paar Rollen. In den Medien wurde diese peinliche Episode zum "Klopapier-Gate", Lam zum Prototyp der weltfremden Bürokratin erklärt. "Ich muss mich den Veränderungen erst anpassen", sagte sie damals kleinlaut.

"Lam ist ein Albtraum"

Auch politisch hat sich die Mutter zweier Söhne angepasst. Als Studentin der Soziologie galt sie als Idealistin, die auf die Straße ging, wenn sie die Politik der britischen Kolonialherren als ungerecht empfand. Nach ihrem Einstieg in die Hongkonger Verwaltung eilte der gläubigen Katholikin der Ruf einer umsichtigen Beamtin voraus, erst als Leiterin des Sozialamts, später als Entwicklungsministerin.

Das änderte sich 2012, als sie zur Stellvertreterin des chinatreuen Regierungschefs Leung Chun-ying aufstieg. Ihre Aufgabe war es, den 7,2 Millionen Einwohnern Hongkongs ein Wahlsystem Pekinger Zuschnitts aufzuzwingen. 2014 folgten die Regenschirmproteste, 79 Tage lang blockierten Demokratieaktivisten die Straßen der Metropole. "Lam ist ein Albtraum", richtete deren Anführer Joshua Wang der Vizechefin aus.

Alle Proteste und ihr ramponiertes Image hielten Lam im Mai 2017 nicht davon ab, die Nachfolge ihres Mentors anzutreten. Gewählt wurde sie nicht vom Volk, sondern von einem Wahlkollegium, dessen 1200 Mitglieder von Peking handverlesen wurden. Und auch bei den jetzigen Protesten wird sie dem Ruf einer beinharten Vollstreckerin von Chinas Willen gerecht.

Selbst freundliche Worte klingen aus ihrem Mund wie eine Drohung. "Sei nicht so radikal, deine Mutter macht sich große Sorgen um dich", sagte sie einst einer Aktivistin. (Florian Niederndorfer, 12.6.2019)