Caloocan, eine Großstadt nahe der Hauptstadt der Philippinen, August 2017: Drei Polizisten schleifen den 17-jährigen Studenten Kian Delos Santos aus seinem Elternhaus. Er wimmert: "Bitte hört auf, bitte hört auf. Ich habe morgen eine Prüfung." Doch die Beamten hören nicht auf. Zweimal schießen sie dem jungen Mann in den Kopf und einmal in den Rücken, ehe sie seinen leblosen Körper liegen lassen.

Er soll bewaffnet gewesen sein, werden die Polizisten später sagen. Sie hätten aus Notwehr gehandelt, soll die Ausrede der Beamten werden. Doch Über wachungskameras zeichnen die Szene auf. Die rücksichtslose Polizeiaktion treibt tausende Philippiner auf die Straßen und drängt den Präsidenten Rodrigo Duterte in die Ecke.

Der 17-jährige Kian Delos Santos wurde von Polizisten erschossen.
Foto: Noel CELIS / AFP

Drei Verurteilte

Er, der Hardliner, wird dazu gezwungen, öffentlich eine Untersuchung der Schüsse zu fordern. Er, der immer wieder den Polizisten der Philippinen versprochen hatte, dass er sie decken würde, wenn sie im sogenannten Krieg gegen Drogen Menschenleben auslöschen sollten. Im November 2018 wurden die drei Beamten schließlich verurteilt. Bis zu 40 Jahre sitzen sie nun hinter Gittern. Es sind die einzigen Verurteilungen im Zusammenhang mit den Morden im Drogenkrieg.

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Rodrigo Duterte inszeniert sich gerne als der starke Mann.
Foto: AP Photo/Bullit Marquez

Tausende Opfer

Seit Beginn des blutigen Kampfs gegen Drogensüchtige und Dealer im Juli 2016 bis zum September 2018 starben laut Angaben der nationalen Antidrogenbehörde rund 5.000 Menschen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) spricht von tausenden weiteren Opfern. Unbekannte Bewaffnete sollen laut HRW-Angaben rund 23.000 Personen erschossen haben. Die Toten laufen in der offiziellen Statistik unter "offene Mordermittlungen".

Hilfsorganisationen nennen sie Opfer des brutalen Antidrogeneinsatzes, der vor allem die Ärmste der Armen trifft. Erschossen von Todesschwadronen, die Duterte bereits in seiner Zeit als Bürgermeister von Davao auf der südlichen Insel Mindanao eingesetzt haben und deren Mitglied er auch gewesen sein soll. Während der mehr als 20-jährigen Diktatur unter Ferdinand Marcos sollen 3.000 Menschen gestorben und 35.000 gefoltert worden sein.

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Laut offiziellen Angaben starben innerhalb von mehr als zwei Jahren rund 5.000 Menschen im "Kampf gegen Drogen".
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"Jeder hat es gewusst"

Carlos Conde hat über das brutale Vorgehen der Behörden in seinem Heimatland seit dem Jahr 1998 berichtet. Unter anderem für die New York Times beschrieb er, zu welchem Preis Duterte seine Macht sichern wollte. "Jeder hat gewusst, was passiert", sagt er im Gespräch mit dem STANDARD: "Er säte Angst in die Herzen der Menschen, um sie kontrollieren zu können."

Heute engagiert sich Conde für Human Rights Watch. Er ist einer der wenigen vor Ort, der mit seinem vollen Namen für Zeitungsinterviews zur Verfügung steht. Und das, obwohl sich Condes Name auf einer der sogenannten Abschusslisten der Regierung in Manila findet. Auf dieser werden neben kritischen Journalisten auch Aktivisten und Oppositionspolitiker geführt.

Maria Ressa ist die Chefredakteurin der unabhängigen Nachrichtenseite "Rappler" und ein Dorn im Auge der Regierung.
Foto: APA/AFP/ISAAC LAWRENCE

Gebrandmarkt vom Staat

Landet man auf der Liste, wird man von Regierungsbeamten als Kommunist und von Militärs als Terrorist gebrandmarkt. Physisch angegriffen wurde Conde aber noch nicht: "Ich vertraue einfach darauf, dass die Regierung nicht so dumm ist, meiner Familie und mir wehzutun", sagt er: "Ich werde nicht aufhören Missstände zu kritisieren. Was bleibt mir anderes übrig?"

Das wohl prominenteste Beispiel für die Unterdrückung kritischer Medien ist die philippinische Journalistin Maria Ressa. Sie ist die Vorsitzende und Chefredakteurin der unabhängigen Nachrichtenseite Rappler und sieht sich immer wieder mit Klagen konfrontiert. Im März wurde Ressa am Flughafen von Manila verhaftet, weil sie Regelungen für ausländische Investitionen missachtet haben soll. "Ich werde wie eine Verbrecherin behandelt, obwohl mein einziges Verbrechen ist, dass ich eine unabhängige Journalistin bin", sagte sie, während sie von Polizisten abgeführt wurde.

Noch immer rollen Militärfahrzeuge durch die zerstörte Stadt Marawi. Tausende Menschen leben in Übergangsquartieren, der Wiederaufbau verzögert sich massiv.
Foto: Noel CELIS / AFP

Maskierte in Marawi

Menschenrechtler zeigen sich zudem besorgt wegen des seit zwei Jahren herrschenden Kriegsrechts in der südlichen Region Mindanao. Es wurde verhängt, nachdem am 23. Mai 2017 maskierte Bewaffnete in die Stadt Marawi eingefallen waren. In ihren Händen: die schwarze Flagge des "Islamischen Staats".

Fünf Monate lang kämpfte die philippinische Armee gegen die Terroristen, die die für Muslime wichtigste Stadt des Landes in ihre Gewalt bringen wollten. Doch obwohl der philippinische Präsident selbst vor einem Jahr ver kündete, dass die Rebellen besiegt sind, blieb das Kriegsrecht aufrecht. Duterte fantasiert sogar laut darüber, den Ausnahmezustand auf das ganze Land auszuweiten.

Tausende in Lagern

Gleichzeitig verzögert sich der Wiederaufbau der zerstörten Stadt. Noch immer befinden sich rund 100.000 Bewohner in Übergangslagern oder übernachten in den Häusern von Verwandten. Ein Konsortium unter chinesischer Führung sollte ursprünglich die Bauvorhaben leiten, musste sich jedoch wegen rechtlicher und finanzieller Probleme zurück ziehen.

Um die umgerechnet 620.000 Euro, die für die Opfer der Belagerung Marawis gespendet wurden, herrscht eine öffentliche Debatte. Die staatliche Prüfungskommission warf dem Büro für Zivilschutz und Katastrophenrisiko reduktion vor, im vergangenen Jahr nur rund 170 Euro an die Opfer weitergegeben zu haben. Der Rest der Spenden fehle.

Dies stimme nicht, sagt der Direktor des beschuldigten Büros Ende Mai. Das Geld sei noch da, es gebe keine Korruption. Die Bewohner Marawis werfen der Regierung in Manila vor, den Wiederaufbau zu verzögern und so die muslimische Minderheit im Land zu vernachlässigen.

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HIV breitet sich auf den Philippinen rasant aus.
Foto: AP Photo/Aaron Favila

Epidemie

Vernachlässigt wird auch die Prävention von HIV-Übertragungen. In dem mehrheitlich katholischen Land werden Kondome als Verhütungsmittel nicht beworben. In einem Bericht des Programms der Vereinten Nationen gegen HIV/Aids (UNAIDS) aus dem Jahr 2017 ist die Rede von der "am schnellsten wachsenden HIV-Epidemie in Asien und der pazifischen Region".

Zwischen 2010 und 2016 stieg die Rate der Neuinfektionen um 133 Prozent. Mit Ende 2019 rechnet das philippinische Gesundheitsministerium mit 93.400 HIV-positiven Philippiner. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.

Menschenrechtler protestieren gegen die Senkung des Mindestalters für die Strafmündigkeit.
Foto: Ted ALJIBE / AFP

Angst vor der Todesstrafe

Die zeichnet sich aber bei der Todesstrafe ab. Rachel Chhoa-Howard von Amnesty International zeigt sich im Gespräch mit dem STANDARD besorgt. Bei den Zwischenwahlen im Mai konnten Duterte-Vertraute im Senat gewinnen.

Damit ist das Oberhaus fest in seiner Hand. "Wir befürchten, dass die Todesstrafe wieder le galisiert werden könnte", sagt Chhoa-Howard. Die Philippinen hatten sie im Jahr 2006 nach 1986 zum zweiten Mal abgeschafft. Ein Gesetzesvorschlag für die Wiedereinführung bei Drogendelikten wurde bereits im März eingereicht. "Außerdem beobachten wir mit Sorge, dass die Straf mündigkeit von 15 auf zwölf Jahre gesenkt wird", sagt Chhoa-Howard.

Dass sich die Lage im Land rasch ändern wird, daran glaubt der Ex-Journalist Conde nicht: "Die Morde im Zuge des Kriegs gegen Drogen werden weitergehen, auch wenn mittlerweile klar ist, dass selbst die nichts verändern." Erst wenn nicht nur arme Philippiner, sondern Mitglieder der Mittel- und Oberschicht dem brutalen Vorgehen zum Opfer fallen, könnte Duterte ein Problem bekommen, sagt Conde. (Bianca Blei, 14.6.2019)