Tim Etchells aus Sheffield weigert sich, die Dominanz von Hetze und Fake-News anzuerkennen.

Foto: Hugo Glendinning

Tim Etchells hat schon entspanntere Zeiten erlebt. Obwohl der heute 56-Jährige eigentlich alles erreicht hat, was sich ein Künstler heute wünschen kann. Als Mitbegründer von Großbritanniens (seit 35 Jahren) einflussreichster zeitgenössischer Theatergruppe Forced Entertainment; als Autor, Video- und bildender Künstler genießt er einen ausgezeichneten Ruf.

Aber als politischer Kopf, dessen Arbeit immer schon mit dem Herzschlag der Gesellschaft verbunden war, ist er von wachsender Unruhe erfasst. Die hat nicht nur mit dem Brexit zu tun, sondern vor allem mit dessen Vorzeichen und Zusammenhängen. Darüber spricht Etchells, der mit Forced Entertainment in dem Clown-Stück Out of Order beim Festival Sommerszene Salzburg auftreten wird, in deutlichen Worten. Ein Hinweis darauf, wie der Brexit auf Künstler wirkt.

STANDARD: Forced Entertainment wurde 1984, mitten in der Ära Thatcher, gegründet. Jetzt drängen hinter Theresa May Politiker wie Nigel Farage und Boris Johnson an die Spitze. Wie nehmen Sie diese Wendung der Dinge wahr?

Etchells: Als Gefühl einer Wiederkehr, und zwar der ökonomischen Krise in den 1980ern. Die heutigen Entwicklungen geben unserem Werk eine neue Dringlichkeit, denn sie widersprechen mehr und mehr dem, was wir tun, denken und worüber wir sprechen. Auf der anderen Seite liegen die Dinge heute anders: zum Beispiel in der Migrations-"Krise", die Europas Krise der Migration ist und dessen, wie man mit ihr umgeht.

STANDARD: Gibt es nicht einen Unterschied in den Auftritten von Margaret Thatcher als "Eiserner Lady" und Johnson oder Farage als bösen Clowns?

Etchells: Es bildet sich ein neues Umfeld, in dem der Begriff der Wahrheit, das Vertrauen in die Dinge erodiert sind: Trump und die ganze Idee von Fake News. Wissen Sie, meine Freunde und ich dachten früher, die tonangebende Metapher für die Auflösung der Realität wäre das Fernsehen. Die große Metapher dafür in unserem Frühwerk war das Channelhopping, das Springen von einem Narrativ zum anderen, und die Idee, dass die Realität fragmentiert, zerstückelt und auch irgendwie neu formbar würde.

STANDARD: Und jetzt?

Etchells: Stecken wir in etwas viel Komplexerem – und hängen dadurch viel tiefer in Widersprüchen fest. Die Realität wird mit allen möglichen Arten von Irrealität gedoppelt, die aus dem Internet kommt und aus den Geräten, die wir ununterbrochen mit uns herumtragen. Leute wie Trump oder Farage sind Kreaturen dieses Zeitalters, in dem die Wirklichkeit zerfällt. Natürlich gab es Lügen in Thatchers Politik. Aber heute erleben wir noch einmal eine ganz andere Art von schauderhaftem Theater.

STANDARD: Wie nehmen Sie den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn wahr?

Etchells: Als frustriert. Ich verstehe, dass er sich in einer schwierigen Position befindet, weil auch die Grassroots-Unterstützer von Labour offenbar sehr überzeugt vom Brexit sind. Corbyn war sehr ruhig während der Brexit-Kampagne. Ich fürchte fast, die Chance ist verspielt, eine ordentliche Opposition aufzubauen.

STANDARD: Warum das?

Etchells: Der Brexit ist nicht nur eine Frage von Austritt oder Verbleib in der EU. Er bildet eine größere politische Bewegung. Als solche transportiert er Xenophobie, Rassismus und negative nationalistische Gefühlen. Er ist gewissermaßen unser Faschismus! Während andere Länder explizit einen Anstieg der populistischen Rechten erlebten, hat Großbritannien diese Entwicklung durch die Brexit-"Bewegung" vermieden. Aber es wurde klar, dass Farage faktisch mit Trump und Stephen Bannon verbunden ist und für den Rechtsblock der EU eintritt. Ich finde das sehr besorgniserregend.

STANDARD: Wie beeinflusst das die Arbeit und Situation von Forced Entertainment praktisch und künstlerisch?

Etchells: Weniger praktisch, aber künstlerisch. Unsere aktuellen Stücke wie Out of Order, Real Magic oder auch The Notebook sind alle mit diesen komplett steckengebliebenen Politik- und Kommunikationsprozesse befasst. Sie handeln von der Idee, dass wir in einer krisenhaften Zeit leben: in einem Zustand, in dem Wandel nötig wäre, aber niemand auf Anhieb weiß, wie er zu bewerkstelligen wäre. Wir setzen uns zwar nicht zusammen und beschließen, ein Stück darüber zu machen. Aber es liegt einfach in der Natur unserer Kunst, dass sie aufnimmt, was in der Luft liegt, und darauf reagiert. Die Krise währt ja bereits seit fünf oder sechs Jahren.

STANDARD: Sie haben 1998 ein Buch mit dem Titel "Endland Stories" publiziert. Seitdem sind etliche Bücher von Ihnen erschienen. Kommenden Oktober aber kommt ein neuer Band heraus, der "Endland. And Other Stories" heißen soll. Was hat es damit auf sich?

Etchells: Es ist eine Neuauflage, ergänzt um viele neue Geschichten, die mit der ursprünglichen Sammlung verbunden sind. Die frühen Stories handeln vom Sheffield der 1980er- und 1990er-Jahre, entweder in Märchenform oder als betrunkene Pub-Geschichte oder Science-Fiction. England heißt darin "Endland". Es geht um eine zerbrochene Landschaft, eine instabile Welt: eine komische, aber auch oft sehr dunkle und trostlose Vision von England.

STANDARD: Gilt das auch für das Clown-Stück Out of Order, das Sie bald beim Sommerszene-Festival in Salzburg zeigen?

Etchells: Das Motiv "Politiker und Macht" ist stark enthalten, aber auch das einer Gruppe von Freunden, die sich in einer Bar treffen. Ich würde sagen, es geht um die Idee der politischen Zusammenkunft und um die verschobene Situation heutiger Politik. (Helmut Ploebst, 14.6.2019)