Beim vieldiskutierten Thema Antisemitismus im Islam stehen sich zwei Positionen gegenüber, die meist auch in Kontrast zum Christentum in den Raum gestellt werden: Auf der einen Seite wird argumentiert, dass der Islam weniger antisemitisch sei als das Christentum, will heißen: toleranter gegenüber Juden in der Geschichte. Die andere Position behauptet das Gegenteil: Nein, der Islam steht dem Christentum in Sachen Antisemitismus in nichts nach und würde aktuell dieses sogar übertreffen. Je nach Position und Ausrichtung schwingt das Pendel der Argumentation entweder mehr in die eine oder in die andere Richtung. Eine differenzierte Mittelposition einzunehmen, fällt dabei äußerst schwer.

"Tötet sie, wo ihr sie trefft"

Eine jüngere Veröffentlichung des österreichischen Kulturwissenschafters Michael Ley gießt, wieder einmal, Öl ins Feuer. Das Buch wurde bezeichnenderweise im Jänner dieses Jahres im Rahmen einer FPÖ-Veranstaltung vorgestellt, die in Anwesenheit von HC Strache eine parteieigene "Denkfabrik"  eröffnen sollte (die schon wieder Geschichte ist). Es propagiert mit dem recht griffigen Titel "'Tötet sie, wo ihr sie trefft'. Islamischer Antisemitismus" eine einfache Argumentationslinie: Der Islam ist von seiner Grundkonzeption her ein antisemitisches Unternehmen und jegliche Stärkung des Islam in Europa wird zwangsläufig zu einem erhöhten Antisemitismus führen, der letztendlich apokalyptische Züge annehmen würde. Unterstrichen ist diese Behauptung auf dem Titelblatt des Buches seltsamerweise mit der denkbar unpassenden Darstellung des "wandernden, ewigen Juden" von Gustav Doré, also einer Darstellung, mit der man den europäischen, christlichen Antisemitismus beschreiben kann. Aber das ist nur eine der Unstimmigkeiten in dieser Publikation.

Das Massaker an den Banu Quraiza. Illustration aus einer persischen Ali-Biographie, Indien, 18.Jh.
Foto: Public Domain

In der Tat gibt es nun entgegen der Behauptung von der prinzipiell judenfreundlichen Tradition des Islam eine Reihe von Anknüpfungspunkten für diese Argumentationslinie. Sie beginnt schon bei der Biografie des Gründers des Islam und kann sich auf die dunkelsten Flecken darin beziehen: Mohammed geriet in seiner Zeit in Medina, das heißt der zweiten bedeutenden Phase der Formierung seiner Lehre nach 622, in offene Konflikte mit einigen jüdischen Stämmen in dieser Stadt. Es waren wohl primär Loyalitätskonflikte im Zusammenhang mit diversen kriegerischen Konflikten, die auf Mohammeds Anweisung hin brutal bestraft wurden. Die Vergehen der Mitglieder dieser jüdischen Stämme wurden durch Verbannung und in einem Fall sogar durch ein Massaker an allen männlichen Mitgliedern des Stammes geahndet.

Ob dahinter auch eine religiös begründete Motivation stand, ist schwer zu beantworten. Fest steht aber, dass sich in der frühen Gemeinde um Mohammed in Medina eine stärkere Abkehr vom Judentum ergab, mit dem man sich zuvor stark verbunden fühlte. Das hatte viel mit der immer stärkeren Profilierung der eigenen Position zu tun, wie das typisch in der Entstehungsgeschichte vieler Religionen ist – und hier ist gerade das frühe Christentum ein wichtiges Parallelbeispiel. Und völlig außer Frage steht auch, dass die weitere Geschichte des Islam keineswegs nur das Bild von der prinzipiell judenfreundlichen Religion abgibt. Das hat mit der grundsätzlichen Spannung zu tun, die sich zwischen Religionen aufgrund deren Absolutheitsansprüche automatisch auftun und die gegebenenfalls dementsprechend explodieren können. Es gibt genügend Möglichkeiten, zum Teil extrem judenfeindliche Aussagen aus der islamischen Tradition zu zitieren, wie beispielsweise aus den umfangreichen Hadith-Sammlungen (in denen primär diverse vermeintliche und echte Aussprüche Mohammeds gesammelt wurden). Diese verlieren auch bei einer regelrechten Kontextualiserung nichts an Schärfe. Es gab zudem auch Pogrome gegen Juden im islamischen Kontext, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie wir das aus der Geschichte des Christentums kennen.

Islamischer Antisemitismus im 20. Jh.

Gänzlich zu kippen scheint die Situation dann allerdings im 20. Jh. Antisemitische Argumentationsfiguren sind fester Bestandteil der Rhetorik vieler jüngerer Bewegungen in der islamischen Welt. Diverse Fernsehserien transportieren bekannte antisemitische Vorwürfe und Stereotypen und auf verschiedene antisemitische Verschwörungstheorien findet man immer wieder Bezüge in Reden von Politikern oder religiösen oder säkularen Meinungsmachern. Dazu kommt die Naivität im Umgang mit der Figur eines Adolf Hitler, der aufgrund seiner brutalen Auslöschungspolitik großes Ansehen genießt.

Dieser eklatante und in der Tat grassierende Antisemitismus in der islamischen Welt im 20. Jh. hat eine gewichtige Grundlage in den politischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte. Neben der grundsätzlichen Problematik der weitgehenden Abhängigkeit der islamischen Welt von westlichen Kolonialmächten seit dem 19. Jh., die sich im Zuge der beiden Weltkriege im 20. Jh. noch weiter verfestigte, gibt es vor allem ein Moment in der jüngeren Geschichte des Nahen Ostens, das zur ultimativen Provokation wurde: die Staatsgründung Israels, die seit den 1930er-Jahren in Palästina unter der Britischen Mandatsregierung betrieben wurde und schließlich 1948 vollzogen wurde. Die Tatsache, dass dieser Staat (von der Größe Niederösterreichs!) alle gegen ihn gerichteten Angriffe überstand und sich in einer hochgradig feindlich gesinnten Umgebung behaupten konnte, ist historisch gesehen eine ungeheure Leistung. Und stellt bis heute den eigentlichen Stachel im Fleisch des Nahen Ostens dar. Wobei die aktuelle Politik Israels sein Übriges tut, um diesen Zustand fortzusetzen.

Screenshot: Facebook

Antisemitisches Posting auf der Facebook-Page einer Schule von 2012. Zu sehen: Eine Karikatur, in der ein Hadith-Ausspruch zitiert wird, der in einem apokalyptischen Zusammenhang steht: "Muslim, Diener Allahs, da ist eine Jude hinter mir. Komm und töte ihn!"

Im Zuge dieser Entwicklungen kam es im 20. Jh. zu einer ausführlichen Rezeption vieler Argumentationsfiguren des europäischen Antisemitismus in der islamischen Welt. Die von Ley genüsslich zitierten Texte der in Ägypten begründeten Muslimbruderschaft oder der Hinweis auf das Wirken so hochproblematischer Figuren wie des Jerusalemer Mufti Amin Al-Husseini (1893-1974), der direkte Allianzen mit Hitler suchte, geben dafür in der Tat ein beredtes Zeugnis ab. Und an diesen Texten und Formulierungen ist nichts zu beschönigen. Es bleibt in diesem Zusammenhang vor allem anzumerken, dass man diese Tatsache nicht einfach mit dem Hinweis auf eine reine Rezeption des europäischen Antisemitismus erklären kann, der hier von einem eigentlich unschuldigen Islam übernommen wurde. Dieses postkoloniale Erklärungsmuster ist vielfach eine bequeme Argumentationslinie, die eine gründliche Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition ersparen soll.

Allerdings darf man umgekehrt nicht in das verfallen, was Ley mit seiner seltsamen Publikation macht. Er streicht nämlich in seiner Argumentation durchgehend den Unterschied zum Christentum heraus und definiert den Islam als "messianische Ideologie", was diese Religion grundsätzlich von anderen unterscheiden würde. Das dahinter liegende Konzept der "politischen Religion", wie es vom Politikwissenschafter Eric Voegelin in den 1930er-Jahren geprägt wurde, dient dabei als argumentative Grundlage. Und ist aber für eine religiöse Tradition denkbar ungeeignet, weil sie von einer absoluten und nicht differenzierten Einförmigkeit ausgeht.

Anti-Zionismus-Demo in Melbourne 2009.
Foto: Wikimedia/Madhero88 (CC 2.0)

Die frühen Muslime in Spanien waren gar keine Muslime?

Zum Teil ergeben sich daraus groteske Argumentationen. Ein Beispiel ist der Umgang mit der Zeit von al-Andalus, die mehrere Jahrhunderte andauernde Herrschaft des Islam auf der iberischen Halbinsel. Diese Zeit wurde in der Tat vielfach überhoben idealisiert und mit dem positiv besetzten Begriff "convivencia" charakterisiert, womit man sich auf das friedliche "Zusammenleben" der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam bezieht. Nun ist das zweifellos eine illegitime Idealisierung, die dem gesamten Zeitraum von 711 bis 1492 nicht gerecht werden kann. Dazu gab es zu viele Konflikte mit zum Teil beträchtlichem Ausmaß, so etwa ein berüchtigtes antijüdisches Pogrom in Cordoba 1066, dem rund 4.000 Juden zum Opfer fielen.

Aber es gibt auch die Kehrseite: Offensichtlich profitierte das Judentum insbesondere am Anfang der Herrschaft des Islam, zumal zuvor im 6. Jh. im Zuge der Katholisierung der ursprünglich arianischen Goten – der Arianismus ist eine Variante des frühen Christentums, die sich im Zuge der Auseinandersetzungen um die Definition der Trinität entwickelte und sich letztendlich nicht durchsetzen konnte – die Situation für die Juden immer unangenehmer wurde. Einzelne Beschlüsse der Konzilien von Toledo im ausgehenden 6. Jh. betrafen direkt das Judentum und beinhalteten teilweise äußerst heftige Bestimmungen (bis hin zur Forderung nach Zwangstaufe). Ab Anfang des 8. Jh. und mit der Ankunft des Islam änderte sich die Situation und es folgte einige Jahrhunderte lang eine beachtliche Blüte, die unter anderem zur Renaissance des Hebräischen führte und zu einer "goldenen" Epoche des (sephardischen) Judentums.

Die frühen spanischen Muslime waren Christen (!)

Wie geht nun Ley mit dieser Episode der islamisch-jüdischen Geschichte um? Er bedient sich eines Kunstgriffs, der im Grunde genommen einer Geschichtsklitterung gleichkommt. In Wahrheit wäre nämlich die erste Epoche der gemeinhin als Herrschaft des Islam bezeichnete Periode des "Emirats" und später des "Kalifats von Cordoba" gar keine islamische Herrschaft, sondern eine christliche! Die "Omayaden" (wie sie im Buch genannt werden) wären nämlich "syrisch-aramäische Christen" (!), weil es in dieser frühen Zeit den Islam noch gar nicht gegeben hätte. Erst die Almoraviden und später die Almohaden, die ab dem 11. Jh. das Gebiet der iberischen Halbinsel unter ihre Herrschaft brachten, wären "richtige" Muslime gewesen. Und dann hätte es natürlich – erraten! – eine Unterdrückung der Juden gegeben, die es zuvor, unter den "christlichen" Omayaden nicht gegeben hätte. Damit wird mehr oder minder direkt der Islam für die Entstehung des Antisemitismus auf europäischem Boden verantwortlich gemacht und das Christentum entschuldigt. Eine höchste unglaubwürdige Argumentation.

Mit diesem Trick bezieht sich Ley übrigens auf einen Zweig der modernen Islam-Forschung, der sich in den letzten Jahren entwickelte und für die Frühzeit der späteren islamischen Gemeinschaftsbildung eine christliche Prägung veranschlagt, die sich erst unter der Herrschaft der Abbasiden ab dem 8. Jh. zu dem entwickelte, was man gemeinhin als Islam bezeichnet. Dieses Argument wird heute sehr gerne in der Islamkritik angewandt, wann immer es nützlich erscheint. Denn damit kann man recht freihändig Zuschreibungen verteilen, was denn nun islamisch und was wiederum nichtislamisch (= gut, wahr und schön) wäre. Zwar gibt es viele offene Fragen bezüglich der Entstehung und der Geschichte des frühen Islam und es steht völlig außer Frage, dass wesentliche Inhalte der islamischen Tradition ihre spätere Formierung erst Jahrhunderte nach der Lebenszeit des Gründers erfuhren (wie das bei so gut wie allen Religionen der Fall ist). Jedoch wird in der Forschung nicht in Zweifel gezogen, dass bereits auf Mohammed eine distinkte und selbständige Gemeinschaft zurückgeht und es sich nicht einfach um eine jüdische oder (wahlweise) christliche Sondertradition handelt.

Es gäbe zudem noch viele Dinge anzuführen, die den Islam in diesem Zusammenhang auszeichnen. Im Unterschied zum Christentum kennt beispielsweise der Islam eine schon im Koran grundgelegte Stufung von Religionsgemeinschaften in Form eines Kreises des sogenannten "Volks des Buches" (ahl al-kitāb), zu dem neben Judentum und Christentum auch der Zoroastrismus gehört. Zwar wird damit keineswegs die absolut überlegene Stellung des Islam ausgehebelt, aber zumindest gibt es eine gewisse Vorgabe, die sich dann auch im Zuge der Ausbreitung des Islam in gelebter Toleranz gegenüber den genannten Religionen manifestierte. Nur so ist es erklärlich, dass es überhaupt jüdische Gemeinden in Ländern der islamischen Herrschaft gab und bis heute gibt. Wenn der Islam wirklich so intrinsisch mit Antisemitismus verkoppelt wäre, könnte es so etwas gar nicht geben.

Christentum und Islam sind in gleichem Maße antisemitisch – und nicht 

Die eingangs gestellte Frage kann somit nicht wirklich beantwortet werden. Fest steht, dass sowohl Islam als auch Christentum in sich das Potential tragen, ihren gemeinsamen Ursprung im Judentum nicht als positive Ressource zu interpretieren, sondern als problematischen Vergangenheits- beziehungsweise Verlegenheitsrest. Die Juden wären dann diejenigen, die (für die Christen) den Messias nicht erkannt haben oder eben (für den Islam) nicht den wahren Propheten. Dass damit auch Konflikt- und gegebenenfalls sogar Gewaltpotential gegeben ist, steht – leider – völlig außer Frage. Umgekehrt bietet die Verbindung mit dem Judentum auch die Möglichkeit, sich gemeinsamer Ursprünge und Entstehungsbedingungen zu besinnen. Die Frage, die sich die jeweilige religiöse Tradition stellen muss, ist, welche Abzweigung sie nimmt. In diesem Sinne sind sowohl Christentum als auch Islam im gleichen Ausmaß antisemitisch und nicht antisemitisch.

Der Islam ist nicht antisemitischer als das Christentum.
Foto:APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ

Und hier liegt wohl das prinzipielle Missverständnis im Buch von Ley. Er interpretiert den Islam als Ideenhistoriker und Politikwissenschafter und behandelt ihn als eine quasi zeitlose, über allen Dingen stehende Ideologie, die ein ganz konkretes Programm verfolgt und dieses nach einem festgeschriebenen Masterplan umsetzt. Muslime sind in seinen Augen allesamt gehirngewaschene, völlig durchideologisierte Automaten, die nur ein Ziel vor Augen haben. Auf diese Weise kann man aber nicht ansatzweise das Wesen einer religiösen Tradition erfassen.

Bei Ley erfährt dies zudem eine eigenartige apokalyptische Zuspitzung, wenn er vom Islam als "messianischer Ideologie" spricht – ein Begriff, den man genauso gut auch auf das Christentum übertragen könnte. Der Begriff "Islamisierung" ist in dieser Lesart nicht weit entfernt von der aktuell vieldiskutierten These vom "Großen Austausch", wie sie diverse Verschwörungstheoretiker und deren politische Epigonen propagieren. Und das ist bekanntermaßen vor allem eines: ein riesenhafter Unsinn. (Franz Winter, 4.9.2019)

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