Rachel Kushner: "Ich bin in erster Linie Schriftstellerin, keine Aktivistin. Romane leben von Widersprüchen und Exkursen, die zu einem Ganzen zusammenwachsen müssen. Alles andere ist billige Polemik."

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STANDARD: Warum sollten Gefängnisse abgeschafft werden?

Kushner: Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Lassen Sie mich mit einigen Gegenfragen antworten: Wie kommt es, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in amerikanischen Gefängnissen arm ist und eine schlechte oder gar keine Ausbildung genossen hat? Etwa weil arme Leute von Natur aus kriminell sind und reiche nicht? Wären die 15,5 Milliarden Dollar, die die Gefängnisindustrie in diesem Land jährlich verschlingt, nicht besser in Jobs, öffentliche Schulen, adäquate Wohnverhältnisse und Gesundheitsvorsorge investiert? In eine soziale Infrastruktur also, deren Mangel in den allermeisten Fällen die wirkliche Ursache der Kriminalität ist?

STANDARD: Das sind ...

Kushner: ... zurzeit 2,3 Millionen Menschen, die derzeit in den USA hinter Gittern sitzen. Das sind prozentual mehr als in jedem anderen Land der Welt. Zugleich verfügen die USA über das größte Gefängnissystem der Welt. Was sagt das über dessen Effizienz aus? Doch wohl, dass dieses System, das auf Verbrechen, Vergeltung und angeblicher Abschreckung basiert, nicht funktioniert.

STANDARD: Ihre Argumente decken sich mit jenen der Wissenschafterin Ruth Wilson Gilmore, die sich seit 30 Jahren für die Abschaffung von Gefängnissen einsetzt und die Sie neulich für das "New York Times Magazine" porträtiert haben. Nun spielt Ihr neuer Roman in einem Gefängnis. Ist "Ich bin ein Schicksal" Teil Ihres Engagements?

Kushner: Allein die Vorstellung, dass ein Roman als Vehikel für eine sozialpolitische Botschaft dienen könnte, finde ich abstoßend. Das wäre tote Kunst. Ich bin in erster Linie Schriftstellerin, keine Aktivistin. Romane leben von Widersprüchen und Exkursen, die zu einem Ganzen zusammenwachsen müssen. Alles andere ist billige Polemik.

STANDARD: Dennoch muss Ihre freiwillige Gefängnisarbeit diesen Roman beeinflusst haben.

Kushner: Als ich mich vor einigen Jahren einer Menschenrechtsorganisation anschloss und begann, in Gefängnissen zu arbeiten, dachte ich nicht im Entferntesten an einen Roman. Vielmehr handelte ich aus einem Gefühl der persönlichen Verpflichtung heraus. Ich wohne in Los Angeles in Gehdistanz zu den Gerichtsgebäuden und den Haftanstalten, die zusammen den größten Gefängniskomplex der Welt bilden. Da werden täglich Tausende von Menschen in vergitterten Bussen durch die Gegend transportiert. Es wird über Tausende von Schicksalen entschieden. Man kann in meinem Viertel ein perfektes Mittelschichtsleben führen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Aber das ist nicht meine Art.

STANDARD: Was ist Ihre Art?

Kushner: Ich will immer mittendrin sein in der Welt, die mich umgibt. Es liegt mir nicht, Teile davon auszublenden. Bereits als Kind interessierte ich mich dafür, wie Gesellschaften organisiert sind. Also habe ich angefangen, im Frauengefängnis Chowchilla Schreibkurse zu geben und Insassinnen bei ihren Berufungsverfahren zu helfen.

STANDARD: Worin unterscheidet sich die Gesellschaft hinter Gittern von jener draußen?

Kushner: Es ist ja nett, dass Sie mich für eine Expertin halten, aber ich bin keine. Ich lerne lediglich von anderen. Der Soziologe Erving Goffman sprach davon, dass sich unsere Identität aus bestimmten Elementen zusammensetzt – daraus, wie wir uns kleiden, wie wir wohnen, was wir essen und anderes mehr. Im Gefängnis wird man all dieser Identitätsmerkmale beraubt. Übrig bleibt nur die eigene Persönlichkeit. Mir ist aufgefallen, dass Menschen in Gefängnissen eine ungeheure Fähigkeit dafür entwickeln, dieser Persönlichkeit scharfe Konturen zu verleihen – durch Überzeugungskraft, Verführung, Drohungen. Man empfindet ihre Präsenz viel stärker, als die von Menschen draußen. Es ist ihre einzige Möglichkeit, sich selbst darzustellen.

STANDARD: Denken Sie an jemanden Bestimmten?

Kushner: Einmal besuchte ich mit einer Gruppe von Kriminologiestudenten ein Hochsicherheitsgefängnis. Dort traf ich einen Ex-Polizisten, der eine lebenslängliche Strafe absaß, weil er nebenberuflich als Auftragskiller gearbeitet hatte. Er war ganz erpicht darauf, mir von seinen Morden zu erzählen, nicht nur von denen, für die er verurteilt worden war. Ich verbrachte ungefähr fünf Minuten allein mit ihm in seiner Zelle, an deren Wänden Fotos der Harley Davidsons hingen, die er früher besessen hatte. Es fühlte sich an, als würde die Essenz dieses Menschen den ganzen Raum ausfüllen. Das ging mir regelrecht unter die Haut.

STANDARD: Ein korrupter Ex-Polizist namens Doc spielt in "Ich bin ein Schicksal" eine Rolle.

Kushner: Das ist eine Ausnahme. Die meisten Figuren sind reine Erfindung. Ein reales Vorbild hat nur noch Sammy ...

STANDARD: ... die toughe Latina, die die Protagonistin Romy unter ihre Fittiche nimmt.

Kushner: Sammy gleicht einer Freundin von mir, die ich Laufe meiner Gefängnisarbeit kennengelernt habe, Theresa Martinez. Theresa lieferte mir unzählige Details über die Dynamik und die Mechanismen des Gefängnisalltags. Dafür habe ich sie als Beraterin bezahlt.

STANDARD: Wie steht es mit Romy selbst? Die Icherzählerin verbüßt eine zweimal lebenslängliche Haftstrafe plus sechs Jahre, weil sie einen Stalker erschlagen hat.

Kushner: Ich habe niemanden erschlagen und sitze auch nicht im Gefängnis.

STANDARD: Das ist offensichtlich. Dennoch hat Romys Biografie Ähnlichkeiten mit der Ihren.

Kushner: Ich gebe zu, dass Romy und ich einiges gemeinsam haben. Das ist ungewöhnlich. Denn normalerweise bin ich eine Schriftstellerin, die nach außen schaut, nicht nach innen. Mein Schreiben ist nicht autobiografisch. Aber während der Arbeit an diesem Roman kamen mir immer wieder Geschichten aus meiner Jugend in den Sinn.

STANDARD: Sie verbrachten Ihre Teenagerjahre in San Francisco.

Kushner: In einem Arbeiterviertel namens Sunset. Es war kein Viertel, in dem man sich nicht auf die Straße wagte. Aber es gab eine Menge Gewalt, Drogen und Prostitution. Viele meiner Freunde standen bereits mit einem Fuß in der Kriminalität. Zuerst hielt ich diese Erinnerungen von meinem Roman getrennt. Aber es fiel mir schwer, die richtige Stimme für Romy zu finden. Das änderte sich, kaum überließ ich ihr einen Teil meiner eigenen Erfahrungen.

STANDARD: Weshalb landete Romy im Gefängnis und Sie nicht? Oder besser, weshalb sind viele Ihrer Freunde ins Gefängnis gewandert, während Sie ans College gingen?

Kushner: Ich entstamme einer anderen Gesellschaftsschicht. Meine Eltern waren Studenten und auf dem Weg dahin, Wissenschafter zu werden. Sie waren Hippies, unsere Armut war eine Hippie-Armut. In unserem Kühlschrank lag zwar derselbe Fürsorgekäse wie in dem meiner Freunde, aber anders als meine Freunde wurde ich weder missbraucht, noch waren meine Verwandten drogenabhängig oder straffällig. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Geldarmut und der Armut einer ganzen Klasse. Ich wuchs in einer stabilen Familie auf, auch wenn meine Eltern mich und meinen Bruder machen ließen, was wir wollten, und nichts vom Verhätscheln hielten. Ich wuchs mit einem anderen Vokabular auf, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Aber ich lebte das riskante Leben meiner Freunde mit, hatte jedoch immer gute Noten in der Schule. Darauf legen meine Eltern Wert. Unter meinen Freunden galt Intelligenz als eine Form von Hässlichkeit, besonders bei einem Mädchen. Mir hingegen war immer klar, dass ich studieren würde. Ich wollte weg, so sehr ich das Leben in Sunset liebte. Ich war immer Teilnehmerin und Beobachterin zugleich.

STANDARD: Eine gute Voraussetzung für die Schriftstellerei.

Kushner: So sagt man, ja.

STANDARD: Glauben Sie an die Existenz des Bösen?

Kushner: Was ist das Gegenteil des Bösen? Unschuld? Während der Arbeit an Ich bin ein Schicksal las ich Die Brüder Karamasov wieder. Dostojewski versucht darin, das Wesen der Unschuld zu ergründen. In seinen Romanen tun Menschen Schlechtes, aber Gott ist immer gut. Eine gottlose Welt ist komplizierter. Wir alle sehnen uns nach Vergebung, die das Christentum bietet, nicht aber das Justizsystem. Die Grenze zwischen Schuld und Unschuld wird irrelevant, wenn man die Massen von Menschen sieht, die durch dieses System geschleust werden. Mein Roman enthält keine Lösungsvorschläge, keine definitiven Antworten. Die Literatur ist ein Reich, in dem Gedanken erprobt, Leben ausprobiert werden können. Das macht sie so wertvoll. Wenn sie mir zu einer Einsicht verholfen hat, dann zu dieser: Niemand ist unschuldig. Aber einige haben Glück. (Sacha Verna, 15.6.2019)