Ernst Schmiederer: "Indem wir unsere Welt lesbarer machen, tragen wir zur Stärkung unserer Gesellschaft, unserer Demokratie bei. Wir sammeln Material für die Analyse und das Verständnis unserer pluralisierten Welt."

Foto: Edition Import Export
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I.

Wir haben viel zu verlieren. Diese Feststellung ist so mehrheitsfähig, dass jeder minimal begabte Populist daraus flott seinen individuellen Markenkern generieren kann. Der eine behauptet, die Heimat gehe verloren. Der andere fürchtet um die deutsche Sprache. Und der nächste gleich um "die jüdisch-christliche Tradition des Abendlandes". Natürlich ist die Sache komplexer: So unterschiedlich die Menschen, so verschieden die Lebensverhältnisse, so vielfältig auch die Sorgen und Ängste. Während die einen den Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten, machen sich die anderen Sorgen um ihre Zusatzpension. Einer weiß nicht, wie es nach dem Auslaufen des gerade noch bezahlbaren, aber eben befristeten Mietvertrags weitergehen soll. Andere sorgen sich um die Mindestsicherung, um das soziale Netz, den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Um die Demokratie. Oder um Europa.

Nun bilden Wahlergebnisse und Regierungskonstellationen solche Befürchtungen bestenfalls in groben Konturen ab. Sie vermitteln dem/der Einzelnen aber nicht das Gefühl der Teilhabe. Wohl können wir, sofern wahlberechtigt, alle paar Jahre unsere Stimme abgeben; in den Zeiten dazwischen bleibt der parlamentarisch-demokratische Prozess aber für die meisten Menschen eine Blackbox. Als Person kommt da niemand von uns vor. Die repräsentative Demokratie ist – und das liegt in ihrer Natur – eben nicht perfekt. Sie ist kein Alleskönner.

Sie nährt sich nicht allein von Stimmen, nicht allein Reformen machen sie stark. Sie braucht Ideen, Widerspruch, Engagement, Freunde und Freundinnen. Stark und wehrhaft wird Demokratie durch Unterstützung. Sie braucht also Initiative und Initiativen, Aktivismus und Aktivisten. Sie braucht die Zivilgesellschaft. Sie braucht uns. Andersrum: Wir haben auch viel zu gewinnen!

II.

Seit 2011 sammelt unser Team im Blinklicht Media Lab Lebensgeschichten von – meist – jungen Menschen. Wir haben etwa 200 Workshops organisiert, in denen diese autobiografischen Skizzen handschriftlich verfasst werden. Wir haben die Hefte mit diesen Texten – es sind etwa 4.000 Stück – in einem "Archiv der Gegenwart" gesammelt. Und wir haben den größeren Teil der Texte in bislang 13 Bänden der Reihe Berichte aus dem neuen OE zusammen mit einem Handbuch des autobiografischen Schreibens publiziert. Diese Geschichten, empfiehlt der Kinder- und Jugendpsychiater Paulus Hochgatterer im Vorwort zu einem dieser Bücher, "müssen um jeden Preis gelesen werden – damit man sich selbst und die Anderen besser versteht".

Genau deshalb haben wir beschlossen, diesen Rahmen jetzt, da Europa und die Demokratie unter Beschuss und "die Anderen" unter Generalverdacht stehen, zu sprengen. Und zwar so: Wir wollen von noch mehr Menschen noch mehr Geschichten sammeln, die noch mehr erzählen über noch mehr unterschiedliche Lebensverhältnisse in noch mehr sozialen Kontexten in noch mehr Sprachen in noch mehr Ländern. Unser Horizont: Wenn jeder Mensch, der Europäer oder Europäerin sein will, seine Geschichte erzählt hat, endet das Experiment.

III.

"Demokratischer Fortschritt muss als pluralistischer Prozess betrachtet werden, es gibt keinen institutionellen ‚one best way‘, der die alleinige Formel liefert, um einen optimalen Grad an Partizipation oder eine perfekt funktionierende Form von Repräsentation zu gewährleisten", schreibt Pierre Rosanvallon in seinem Buch Die Gegen-Demokratie: "Durch eine erweiterte Sicht auf die Art und Weise, wie Menschen zu Gestaltern ihrer eigenen Geschichte werden, erschließt sich tatsächlich ein Feld neuer Möglichkeiten." Auf diesem Feld werden wir spielen. Es geht darum, den Menschen, die Europa sind, also potenziell allen, die in Europa sind, mittels ihrer Geschichten nicht nur eine Stimme, sondern auch ein Gesicht zu geben. Sie sichtbar zu machen.

Indem wir unsere Welt lesbarer machen, tragen wir zur Stärkung und Entwicklung unserer Gesellschaft, unserer Demokratie bei. Wir sammeln Material für die Analyse und das Verständnis unserer pluralisierten Welt. Wir zeigen, wie es um die Verteilung von Einkommen und Vermögen, von Arbeit und Aufmerksamkeit steht. Wie Teilhabe ermöglicht wird und worauf unser Gemeinwesen bauen kann. Wir bringen also Licht in jenes Dunkel, das gemeinhin Gesellschaft genannt wird. Und wir könnten, wenn das Experiment mit ähnlichen und mit ganz anderen Unternehmungen vernetzt wird, eine erste Blaupause liefern für ein frisches Narrativ unserer Demokratie, für ein europäisches Narrativ der Vielen. Denn darum geht es.

IV.

Indem wir für eine neue Buchreihe die "Geschichten der Gegenwart" sammeln, starten wir ein Experiment in narrativer Demokratie und formulieren programmatisch:

– Aufmerksamkeit für alle!

– Stärkung unserer Demokratie!

– Für eine Gesellschaft der Vielen, für unser Europa der Vielen!

Wer, wie der Herausgeber dieser Reihe, seine Kindheit in den 1960er-Jahren im Land Salzburg verbracht hat, wurde erstmals in den frühen 1970er-Jahren nachhaltiger damit konfrontiert, dass längst nicht alle Menschen, die in Salzburg leben und arbeiten, auch dort zur Welt gekommen sind. Bis dahin musste nicht viel erklärt werden. Als so gut wie alle einfach "von da" waren, ging das Verstehen des Anderen mit vergleichsweise wenig Aufwand vonstatten. In dem Maß aber, in dem kulturelle Heterogenität zum Normalfall wurde, wuchs der Informationsbedarf. Tagtäglich müssen Hürden aus dem Weg geräumt, Verhältnisse geklärt, Unterschiede verstanden und akzeptiert, Abstände vermessen und womöglich reduziert werden, damit sich Gesellschaft bildet und in ihrem Selbstverständnis festigt. "Die Kenntnis der Anderen ist die Basis der Demokratie", schreibt Rosanvallon in seinem Parlament der Unsichtbaren (das in der deutschen Version als eine der Grundlagen des autobiografischen Arbeitens ebenfalls in unserem Verlag publiziert wurde): "Die Schaffung einer gemeinsamen Welt verlangt, dass zwischen ihren Bewohnern eine Art gegenseitiges Verständnis besteht. (...) Wenn die Wirklichkeiten verschleiert sind und die Leben im Dunkeln gelassen werden, beherrschen tatsächlich Vorurteile und Phantasmen die Vorstellungskraft. Das wiederum nährt Argwohn und Ängste."

V.

Dass der erste Band dieser Reihe den Titel "Berichte von Bekannten" trägt, deutet spielerisch die programmatische Absicht des Unternehmens an. Präzisierend verweist die Philosophin Isolde Charim in ihrem Vorwort auf "die Notwendigkeit, wahrgenommen zu werden, um gesellschaftlich zu existieren". Womöglich ist Ihnen also eine Autorin oder ein Autor dieser Berichte persönlich bekannt. Zu wünschen und wesentlicher ist aber, dass diese Texte Bekanntschaften stiften, Beziehungen herstellen zwischen Leserinnen und Autoren, zwischen Autorinnen und Lesern. Dass sie Wahrnehmung möglich machen. Dass sie die Existenz in der Gesellschaft erleichtern. Dass sie also nicht nur empathisch machen, sondern Solidarität stiften.

Die Einsicht, dass wir viel zu verlieren haben, ist längst weit genug verbreitet. Jetzt ist es an uns, den Spieß umzudrehen: Gemeinsam – zusammen mit Anderen – haben wir viel zu gewinnen! Experimentieren wir also! Lesen wir. Erfahren wir etwas über uns selbst und über die Anderen. Berichten wir aus unseren Leben (mit den Anderen). Schreiben wir auf, was das Lesen dieser Geschichten mit uns macht. Erzählen wir von unseren Eindrücken, formulieren wir unsere Gedanken, machen wir uns und die Anderen sichtbar.

Dafür brauchen wir Sie, dafür brauchen wir dich!

Mail an: info@gegenwart.org

Die "Berichte von Bekannten" und die Buchreihe "Geschichten der Gegenwart" werden mit dem Manifest gemeinsam präsentiert: Dienstag, 18. Juni 2019, 19 Uhr, Ankerbrotfabrik, Absberggasse 27, 1100 Wien (im Foyer des Objekt 19)