Foto: Meduni Wien/Matern

STANDARD: Sie beschäftigen sich sehr intensiv mit Kindern und Jugendlichen, die sich selbst verletzten. Warum machen die das?

Plener: Es gibt viele Gründe für Kinder und Jugendliche, sich selbst zu verletzen. Betroffene schildern selbstverletzendes Verhalten als eine Möglichkeit zur Emotionsregulation. Wer sich selbst verletzt, setzt einen Reiz, um sich damit aus einem negativen Gefühlszustand zu befreien.

STANDARD: Welche Arten von Selbstverletzung gibt es?

Plener: Man versteht darunter jede Art von absichtlicher, direkter Schädigung der Körperoberfläche. Die meisten schneiden sich die Haut mit Klingen aller Art auf, aber es gibt auch andere Arten der Selbstverletzung, etwa sich zu verbrennen oder die Haut aufzuscheuern, auch das sehen wir in der Klinik immer wieder. Jugendliche, die das machen, empfinden eine Anspannung, die sich durch Probleme in der Familie, durch Probleme mit Freunden, durch Trauer, Frust oder Wut ergeben kann. Wenn man sich verletzt, setzt man etwas entgegen, was dann als Entlastung empfunden wird. Vor allem ist es ein Akt, den man selbst kontrollieren kann.

STANDARD: Ist es die Lust am Schmerz?

Plener: Wir haben dieses Schmerzempfinden sehr intensiv erforscht und festgestellt, dass Jugendliche, die sich regelmäßig selbst verletzen, eine verschobene Schmerzschwelle haben. Das heißt, sie empfinden weniger Schmerz bei Verletzungen. Interessanterweise scheint diese Schmerzschwelle sehr variabel zu sein, denn wenn die Betroffenen mit den Selbstverletzungen aufhören, hat sich nach zirka einem halben Jahr auch ihr Schmerzempfinden wieder normalisiert.

STANDARD: Oft heißt es, die Jugendlichen, die sich selbst verletzen, wollen nur Aufmerksamkeit. Sehen Sie das auch so?

Plener: Nein, es stimmt auch nicht. Es ist eines der vielen Vorurteile, gegen die wir ankämpfen und die von Leuten kommen, die sich damit auch nicht wirklich auseinandersetzen. Selbstverletzendes Verhalten dient der Emotionsregulierung. Wir und andere Forscher konnten zeigen, dass es dafür auch neurobiologische Einflüsse gibt.

STANDARD: Welche?

Plener: Selbstverletzungen treten bei Jugendlichen auf. Wir beobachten sie ab einem Alter von zirka zwölf Jahren, die höchste Rate sehen wir bei 15-Jährigen. Die Betroffenen sind in der Pubertät, ihr Gehirn entwickelt sich, es gibt viele Stimmungsschwankungen. Wir sehen, dass bei Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten vor allem die Amygdala, also ein zentraler Teil in der Emotionsverarbeitung im Gehirn, hoch aktiv ist. Und zwar sowohl bei positiven als auch negativen und neutralen Reizen.

STANDARD: Und deshalb?

Plener: Nicht nur die Amygdala, sondern auch andere Bereiche des Gehirns, die in präfrontalen und frontalen Gehirnregionen liegen, sind mit der Emotionsregulierung beschäftigt. Sie haben sowohl eine kontrollierende als auch steuernde Funktion. Bei Betroffenen ist dieses Zusammenspiel zwischen den Hirnregionen weniger gut reguliert. Dieses Zusammenspiel lässt sich aber sehr gut durch Psychotherapie verbessern.

STANDARD: Wann also wird das Ritzen zum Problem?

Plener: Die Betroffenen selbst sehen das Ritzen zunächst häufig nicht als Problem. Was für sie zählt, ist die Möglichkeit, einen als negativ empfundenen Gefühlszustand beenden zu können. Sie haben die Kontrolle, sozusagen. Aber so gut wie alle, die das machen, wissen sie auch, dass es vielleicht nicht gerade eine günstige Form ist. Bei vielen Jugendlichen hört das selbstverletzende Verhalten auch wieder auf. Es gibt viel weniger Erwachsene, die sich selbst ritzen. Außer bei Borderline-Störungen, da ist Ritzen ein Symptom der Erkrankung. Das heißt aber nicht, dass jeder, der ritzt, eine Borderline-Störung hat. Da muss man differenzieren.

STANDARD: Wer holt Hilfe?

Plener: Vor allem bei jüngeren Jugendlichen sind es die Eltern oder die Lehrer, die die Jugendlichen schicken. Und die sitzen dann da und wollen eigentlich oft erst einmal nichts ändern. Obwohl schon viele sehr ambivalent sind. Sie wissen, dass Ritzen keine gelungene Problemlösung ist, viele wollen auch keine Narben zum Beispiel. Ein erster wichtiger Schritt ist es also, mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen und herausfinden, welche Situationen den Drang zur Selbstverletzung auslösen. Denn die entscheidende Frage für die Jugendlichen ist ja: "Wenn ich das Ritzen aufgebe, wie komme ich dann klar?"

STANDARD: Wie eigentlich?

Plener: Wir bieten ein wirklich gutes Programm für diese Jugendlichen. Sie können jeden Donnerstag von 9 bis 11 Uhr einfach in eine offene Sprechstunde in die Ambulanz kommen, ohne Anmeldung. Und dann reden wir. Das wollen die meisten. Wir erzählen ihnen dann aber auch, dass wir mit Psychotherapie wirklich sehr viel erreichen können. Wobei hilft mir das Ritzen? Das ist die entscheidende Frage, die wir herauszufinden versuchen. Den meisten ist einfach auch gar nicht bewusst, wie sie in den Zustand von Anspannung kommen.

STANDARD: Und was dann?

Plener: Es geht in der ersten Phase darum, eine Alternative zu Messern, Rasierklingen, Feuerzeugen zu finden. Also etwas, das in einer angespannten Situation einen Reiz setzen kann, ohne zu verletzen. Wir haben gute Erfahrungen mit scharfen Lebensmitteln, etwa Wasabi oder Chili, es können auch Eiswürfel sein. Auch mit Ammoniak zum Riechen haben wir gute Erfahrungen gemacht. Und dann geht es im Rahmen einer Psychotherapie darum zu klären, welche Schwierigkeiten es gibt und wie man die lösen könnte.

STANDARD: Sie haben mit vielen Jugendlichen gearbeitet: Erkennen Sie Muster, die zu selbstverletzendem Verhalten führen?

Plener: Meistens sind es zwischenmenschliche Schwierigkeiten, die zu emotionalem Stress führen und in Selbstverletzung mündet. Streit in der Familie ist oft ein Auslöser, aber auch die Zurückweisung von Freunden kann eine Ursache sein. Mobbing ist ein massiver Risikofaktor. Es erhöht das Risiko für selbstverletzendes Verhalten um das Zwölffache. Oft verletzen sich Jugendliche aber auch, wenn sie traumatische Erlebnisse hinter sich haben. Es geht in der Psychotherapie darum, den Jugendlichen diese Gefühlszustände bewusstzumachen. Im besten Fall lernen sie, mit den für sie schmerzvollen Situationen anders umzugehen.

STANDARD: Kann mitunter schwierig sein: die Eltern, die Schule, die Freunde – da bleibt doch vieles gleich?

Plener: Das Erleben wird aber anders, wenn sich die Jugendlichen ihrer Emotionen bewusst werden, und Mechanismen kennen, wie ihre innere, negative Anspannung entsteht. Das Wort ist zwar schon recht abgedroschen: Aber Achtsamkeitstraining kann sehr viel zum Positiven verändern. Ziel ist es ja, gar nicht erst in diesen hohen Stresszustand zu kommen. Und apropos Eltern: Sie sollten in die Therapie eingebunden sein.

STANDARD: Und das Mobbing in der Schule. Gibt es da Lösungen?

Plener: Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Schule als Institution hier klar Stellung bezieht und Prävention betreibt. Eine der zentralen Momente beim Mobbing ist ja, dass es immer Zuseher und Zuseherinnen gibt. Ziel von Prävention wäre, dass diese sogenannten Bystander Position beziehen, wenn sie Akte von Mobbing beobachten. In der Psychotherapie hingegen lernen Einzelpersonen, wie sie mit konkreten Bösartigkeiten klarkommen können.

STANDARD: Wie sehr findet eigentlich das Ritzen im Geheimen statt?

Plener: Die meisten Jugendlichen machen es eigentlich so, dass die anderen nichts davon merken – und sind auch sehr selbstfürsorglich, wenn es um das Verbinden und Versorgen der Wunden geht. Meist sind es erst die Narben, die die Umwelt aufmerksam machen.

STANDARD: Aber es gibt doch in den sozialen Medien die Bilder von tiefen Wunden, die Ritzer dort zur Schau stellen ...

Plener: Dieses Phänomen haben wir sehr ausführlich untersucht. Es stimmt, dass auf Instagram Wunden gezeigt werden. Und es stimmt auch, dass je tiefer die gezeigte Wunde ist, die Posts umso mehr "Likes" bekommen. Wir haben also versucht, mit den Leuten, die diese Fotos posten, per Chat in Kontakt zu kommen und sie zu fragen, wie sie das online erleben.

STANDARD: Gibt es ein Ergebnis?

Plener: Ja, wer Fotos seiner Wunden postet, bekommt nicht nur "Likes", sondern auch viele Angebote von Leuten, die helfen wollen. Die Community ist also jenen gegenüber, die sich selbst verletzen, erst einmal sehr empathisch. In unserer Studie haben wir genau bei den sich selbst verletztenden Instagrammern nachgefragt. Per Chat. 65 von 100 Angefragten haben da übrigens auch mitgemacht. Und deshalb wissen wir, dass fast alle ihre Wunden ausschließlich online zeigen, nicht in ihrem realen Umfeld, denn so gut wie allen ist bewusst, dass Selbstverletzung sozial nicht akzeptiert ist. Wir als Kinder- und Jugendpsychiater wollten also auch das Potenzial des Internets nutzen und haben das Star-Projekt ins Leben gerufen. Wir bieten für Jugendliche, die sich selbst verletzen, Onlinetherapie an. Das Angebot wird gut angenommen. Jugendliche haben kein Problem, mit einem Psychotherapeuten zu chatten.

STANDARD: Viele Eltern von ritzenden Jugendlichen haben Angst, ihre Kinder könnten sich damit umbringen. Ist diese Sorge berechtigt?

Plener: Per definitionem und unserer Erfahrung nach geschieht selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter nicht in suizidaler Absicht. Langfristig und über die gesamte Lebensspanne betrachtet haben viele Forschungsgruppen aber schon festgestellt, dass selbstverletzendes Verhalten in der Jugend ein Risikofaktor für spätere Suizidversuche und Suizide darstellt.

STANDARD: Kann es sein, dass Jugendliche, die sich ritzen, das auch als Erwachsene weitermachen?

Plener: Das kann sein, ist aber eher selten. Die Jugendlichen beenden häufig ihr selbstverletzendes Verhalten. Bei einigen sieht man allerdings einen Umstieg auf Alkohol oder andere Drogen. Wir denken, dass die Abnahme auf Lernerfahrungen beruht und auch neurobiologische Ursachen hat. Mit fortschreitender Hirnreifung gelingt auch die Impulskontrolle immer besser.

STANDARD: Bleiben also nur die Narben ...

Plener: Das stimmt, im besten Fall werden die Narben Teil einer gelungenen Bewältigung in der eigenen Biografie, ein sichtbarer Beweis dafür, dass man eine schwierige Phase erlebt und diese erfolgreich hinter sich gelassen hat. (Karin Pollack, 18.6.2019)