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Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat im Vorjahr 16 Algorithmen zugelassen, einer erkennt etwa Netzhautschäden bei Diabetikern.

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Existenzängste traditioneller Gesundheitsberufe und Besitzstandswahrung bremsen im Gesundheitswesen viele neue Entwicklungen: "Ärzte, die Angst haben, von Maschinen ersetzt zu werden, gehören ersetzt", findet Bart de Witte, Experte für Künstliche Intelligenz (KI).

Der ehemalige Chef-Manager für digitale Gesundheitsleistungen von IBM in Österreich, der Schweiz und Deutschland und Gründer einer Open Source NGO für KI in der Medizin, sieht darin zunächst einmal eine Möglichkeit, weltweit schreckliche Benachteiligungen zu beenden: "Wir sprechen über eine Welt, in der die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und Ärzten hat. Im südlichen Afrika müssen Sie zehn Ärzte ausbilden, damit einer bleibt. Auf diese Weise benötigen Sie in Nigeria 300 Jahre, um auf unseren Stand in Europa zu kommen." Die Fachärzte eines medizinischen Gebietes für viele Millionen Menschen könne man in Entwicklungsländern oft an einer Hand abzählen.

Probleme lösen

Hier können digitale Bildübermittlung, Breitbandkommunikation und maschinell lernende Systeme Enormes leisten. So lassen sich per Handy angefertigte Augenhintergrundbilder (Netzhauterkrankungen) oder von ausgebildeten Krankenpflegern abgenommene Gebärmutterhals-Abstriche (Zervixkarzinom-Früherkennung) verschicken, automatisch vorselektieren und begutachten. "Ich sage KI-Unternehmen immer wieder: 'Geht nach Afrika.' Da gibt es keine Ärzte, keine Ärztekammer, keine Krankenkasse, nur Probleme, die zu lösen sind."

In der modernen Medizin werden täglich Milliarden normierte Aktionen – speziell bei Diagnoseschritten – gesetzt, zumeist steckt in der Analyse – auch der größten Routinedaten – noch immer der Mensch dahinter. "Der Arzt macht zu 80 Prozent Mustererkennung", so der Experte. Doch gerade auf dem Gebiet der Mustererkennung ist die EDV mit ihren Algorithmen, die auch noch 24 Stunden lang selbst lernen können, mittlerweile besser.

Bart de Witte nannte ein "tierisches Beispiel": Nehmen Sie die Begutachtung von Gewebeschnitten eines Mammakarzinoms. Der Mensch ist dabei durch sein Gehirn und durch seine Augen limitiert. Vögel aber sehen ein breiteres Lichtspektrum als Menschen. In einem Versuch erkannten Tauben am Beginn 50 Prozent Tumormaterial, was dem Zufall entspricht. Nach zwei Wochen waren es 86 Prozent. Das war so gut wie ein durchschnittlicher Pathologe."

Durch Algorithmen ersetzt

Die Entwicklung in Richtung Unterstützung der Ärzte bei Routinetätigkeiten durch Algorithmen und KI ist voll im Laufen. "Vergangenes Jahr hat die US-Arzneimittelbehörde FDA 16 Algorithmen zugelassen, darunter einen zur erstmaligen maschinellen Erkennung der diabetischen Retinopathie, also der Netzhautschäden bei Diabetikern. Im Jahr 2027, meine ich, werden 80 Prozent der klassischen Diagnosen durch Algorithmen gestellt werden."

Die Angst, dass damit die Ärzte verschwinden würden, sei unbegründet. "Wenn Mensch und Maschine zusammenarbeiten, werden sie immer stärker sein. Sie werden bessere Diagnosen stellen. Wir werden den Menschen nicht wegrationalisieren." Empathie, Intuition und menschliche Zuwendung seien die wahren Aufgaben der Ärzte – sie könnten mehr Zeit dafür finden, wenn Routineaufgaben maschinell durchgeführt würden.

Was aber laut dem Experimenten verhindert werden muss: die Ausbildung von Monopolen und Oligopolen auf der Basis von Daten und Technologien. "Wir müssen über die Werte reden", so de Witte. Sonst würden die Ungleichheiten weltweit nur noch verstärkt statt beseitigt werden. (16.6.2019)