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Sissel Gran, "Ich verlasse dich, weil ich leben will". Verlag Herder 2019, 335 Seiten, 24,79 Euro

STANDARD: Sie beschreiben in Ihrem Buch sehr viele unglückliche Beziehungen. Was sind eigentlich die Hauptursachen dafür, dass Paare sich trennen?

Sissel Gran: Menschen trennen sich, wenn sie sich in der Beziehung über lange Zeit einsam, unsichtbar und unwichtig fühlen. Zumindest sind es die Paarbeziehungen, auf die ich mich in meinem Buch konzentriere. Es gibt natürlich auch andere Trennungsgründe wie wiederholte physische Gewalt, Drogenmissbrauch, ständiges Fremdgehen oder Formen von emotionalem Terror, nur ist das nicht mein Kernthema. Ich konzentriere mich auf das Beschreiben von Paaren, bei denen Gewalt oder Missbrauch kein Thema war, die Beziehung aber trotzdem als sehr schmerzvoll und die Trennung als Bedrohung empfunden wurde – und zwar als Bedrohung für das eigene Selbstverständnis.

STANDARD: Gibt es eigentlich klassische Muster in Paarbeziehungen?

Gran: Es gibt schon eine typische Rollenaufteilung: Meistens ist ein Teil in der Partnerschaft daran interessiert, die Beziehung weiterzuverfolgen, der andere Teil hingegen zieht sich zurück. Dieses Muster wird bei jedem noch so kleinen Konflikt oder Unstimmigkeit dann auch schlagend. Dieses Muster wird langfristig zur Falle, denn alle Auseinandersetzungen laufen immer und immer wieder nach demselben Schema ab. Das ist schmerzhaft für das Paar selbst, aber auch für die Kinder, die in so einer Atmosphäre aufwachsen. Es ist wie eine Kriegszone, in der sich jeder wie auf Zehenspitzen bewegt, um ja keinen Streit vom Zaun zu brechen. Oft entwickelt sich aus dieser Situation dann auch tödliches Schweigen.

STANDARD: Gibt es in diesem Bereich eigentlich ein typisch männliches und weibliches Verhalten?

Gran: Ich denke ja. Wenn Frauen das verzweifelte Gefühl haben, dass ihre Beziehung in die Brüche geht, werden sie gerne zu sogenannten Verfolgerinnen, weil sie es als Versuch sehen, in Kontakt zu bleiben. Das kann sich zum Beispiel in einem sehr sarkastischen Ton manifestieren oder in einem ständigen Nörgeln, in vielen Weinausbrüchen oder in ständigem und ununterbrochenem Reden. Das alles passiert, um den Partner doch noch für die Beziehung zu gewinnen.

STANDARD: Ist aber wahrscheinlich total kontraproduktiv, oder?

Gran: Genau, mit diesem Verhalten drängt man den Partner meist noch mehr in die Defensive oder die Verweigerung. Oft endet das darin, dass derjenige sich förmlich einmauert.

STANDARD: Wie äußert sich das?

Gran: Es kann eine vollkommene Passivität, ein Fehlen jedes Engagements sein. Viele beschreiben es auch als Kälte oder Gleichgültigkeit. In Wahrheit ist es so, dass viele Männer einfach nicht wissen, was sie genau sagen oder tun sollen, und deshalb erstarren. Diese offen zur Schau getragene Gleichgültigkeit steigert aber nur noch die Verzweiflung der Partnerin. Je verzweifelter sie sich bemüht, umso ruhiger wird der Partner, der versucht, die Situation durch sein Schweigen zu beruhigen.

STANDARD: Ein Teufelskreis also?

Gran: Genau. Je mehr ein Mann versucht, seine Partnerin durch Schweigen und Nichtreagieren zu beruhigen, umso mehr versuchen Frauen diese Mauer des Schweigens zu durchdringen. Es ist also wie eine Falle, eine ziemlich kafkaeske Situation, und am Ende versteht eigentlich keiner der beiden Partner mehr, wie und warum es so weit kommen konnte.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Streit in Partnerschaften der Beweis für eine sehr enge Beziehung ist. Wie meinen Sie das?

Gran: Wenn Paare streiten, dann kämpfen sie oft um die Liebe des anderen, sind sich dessen aber gar nicht bewusst. Sie kämpfen, um wieder zusammenzukommen, könnte man sagen. Streit ist also immer auch ein Zeichen für eine emotionale Verbindung. Allein: Die beiden Streitparteien blicken nicht hinter die emotionalen Kulissen des anderen. Wenn das Streiten aufhört, ist das also vordergründig erst einmal gut, kann aber auch ein Warnzeichen dafür sein, dass die Beziehung wirklich in Gefahr ist. Dass sich beide sozusagen zurückgezogen haben.

STANDARD: Ist das alles Interpretationssache?

Gran: Die Menschen sind unterschiedlich, und insofern auch Beziehungen. In unglücklichen Beziehungen kommt aber fast immer dieser Punkt, an dem beide aufgeben und sich zurückziehen. Es ist also eine Art Burnout für diejenigen, die bis dahin versucht haben, eine Beziehung aktiv zu verfolgen. Dieser Rückzug wird von den Partnern aber auch oft missinterpretiert.

STANDARD: Als was?

Gran: Oft wird es so gedeutet, dass alles wieder okay ist. Das Ende von Streit wird nicht als Resignation gesehen, häufig ist es aber genau das. Deshalb erleben viele Männer es als große Überraschung, wenn sie von ihren Partnerinnen verlassen werden.

STANDARD: Kann eine Paartherapie in solchen verkeilten Situationen überhaupt noch helfen?

Gran: Ich denke schon, dass es eine gute Idee ist, sich professionelle Hilfe zu holen. Denn dann gibt es die Chance, destruktive Muster in Beziehungen zu erkennen. Vielen Menschen in unglücklichen Beziehungen fällt es zum Beispiel sehr schwer zu verzeihen. Das sind dann immer dieselben Erlebnisse in der Vergangenheit, auf die im Streit Bezug genommen wird. Das kann eine zurückliegende Affäre sein oder eine andere Situation, in der sich ein Teil des Paares betrogen fühlte. Wenn man solche Wunden nicht heilt, ist es so, als ob sich ein Paar im immer gleichen Tanz der verletzten Gefühle weiterdreht.

STANDARD: Was wäre eine andere Sichtweise auf verletzte Gefühle?

Gran: Was sich nach außen als Ärger oder defensives Verhalten äußert, ist in Wirklichkeit Traurigkeit, Scham, eine Sehnsucht oder eine Angst. Dabei können Gefühle wie Liebe und Hass gleichzeitig und widersprüchlich sein. Das ist für die meisten nur sehr schwer zu begreifen und noch schwerer in Worte zu fassen. Da können Therapeuten eine wichtige Mittlerrolle einnehmen und Paare dabei unterstützen, nicht immer wieder in dieselben Fallen zu tappen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Kinder in derart verfahrenen Situationen?

Gran: Viele Menschen glauben, dass ein Kind eine Partnerschaft retten kann. Das ist aber oft leider nicht der Fall. Wenn ein Paar Probleme hat, wird es sie auch haben, wenn sie Eltern sind. Kinder machen das Leben keinesfalls leichter, nur eben bedeutungsvoller. Kinder zu bekommen, um dadurch glücklich zu werden, ist jedenfalls keine gute Idee.

STANDARD: Aber oft bleiben Paare doch gerade wegen der Kinder zusammen.

Gran: Das stimmt. Paare kämpfen stärker um Beziehungen, wenn Kinder da sind. Da steht dann einfach viel mehr auf dem Spiel, es gibt viel mehr zu verlieren.

STANDARD: Ist eine Trennung für Kinder eigentlich immer schrecklich?

Gran: Wenn zu Hause permanent eine Art Kampfzone ist, kann eine Trennung für Kinder auch eine Erleichterung sein, vor allem wenn Gewalt, Missbrauch oder Drogenkonsum involviert sind. Andererseits sind zivilisierte Trennungen genauso wenig leicht, denn Kinder verstehen dann einfach oft nicht, warum sich die Eltern trennen. Eine Scheidung ist jedenfalls für Kinder niemals einfach zu bewältigen – sie wollen, dass Mutter und Vater zusammenbleiben.

STANDARD: Was bedeutet eine Trennung langfristig?

Gran: Kinder wollen ihre Eltern meistens nicht belasten und würden auf Nachfrage eigentlich immer sagen, dass alles in Ordnung ist. Kinder verletzen die Gefühle ihrer Eltern einfach nicht gerne. Die meisten fühlen sich nach der Trennung ihrer Eltern aber erst einmal recht heimatlos, wissen nicht, wohin sie gehören. Dann kommt immer noch dazu, ob sich Vater und Mutter wieder neu binden – und wie das für den jeweils anderen Elternteil ist. Da kann es sein, dass Kinder mit Ungleichheiten fertig werden müssen. Auch das wechselnde Wohnen bei Vater und Mutter ist anstrengend.

STANDARD: Sie tragen also einen Schaden davon?

Gran: Das ist zu drastisch. Ich höre nur sehr oft von Scheidungskindern, dass sie durch die Trennung ihrer Eltern so stark beeinträchtigt waren, dass sie ihre eigenen Gefühle eigentlich gar nicht entdecken konnten. Sie fühlen sich nicht, kennen sich selbst also auch nicht besonders gut. Ich denke, dass Eltern, die sich trennen, auch akzeptieren müssen, dass ihre Kinder traurig sind, dass sie böse sind oder protestieren. Wichtig ist, diese Gefühle ernst zu nehmen und seinen Kindern weiter zuzuhören, mit ihnen zu sprechen.

STANDARD: Warum werden Scheidungen im 21. Jahrhundert immer noch als große Niederlagen erlebt?

Gran: Die Möglichkeit, dass Paare sich trennen können, ist eine Errungenschaft. Ich denke, darüber sind sich alle im Klaren. Aber für bestimmte Menschen ist sie eben immer auch noch mit Scham behaftet. Und in Wirklichkeit ist eine Scheidung immer eine sehr harte Situation, für den, der verlässt, und den, der verlassen wird.

STANDARD: Inwiefern?

Gran: Wenn man die oder der ist, der verlässt, muss man damit fertig werden, dass die anderen einen als selbstsüchtig oder grausam betrachten. Meistens ist es ja schon so, dass die oder der Verlassene von anderen viel mehr Sympathien bekommt. Und obwohl das eigentlich tröstlich wäre, fühlt man sich beschämt, weil man ja de facto verlassen wurde, also nicht mehr gewollt ist. Etwas zerbricht da. Viele meiner Klienten und Klientinnen, die verlassen wurden, fühlen sich gebrochen, schutzlos und verbraucht – manche sogar noch Jahre später.

STANDARD: Wer betrügt, ist böse, wer betrogen wird, gut. Ist es ein Klischee, oder stimmt es?

Gran: Es stimmt schon, dass der- oder diejenige, die aus einer Beziehung geht, als schlechter Mensch betrachtet wird. Untreu sein oder den Partner beziehungsweise die Partnerin zu verlassen, weil man sich in jemand anderen verliebt hat, gilt immer noch als Sünde. Andererseits gibt es wirklich viele Arten, die Partnerin oder den Partner zu betrügen, ohne fremdzugehen.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es zwei Regeln in einer guten Partnerschaft gibt. Welche sind das?

Gran: Regel Nummer eins: "Halte mich, sei für mich da, wenn ich dich brauche." Da geht es also um die Beziehung zueinander. Regel Nummer zwei hat mehr mit gegenseitiger Anerkennung und Verständnis zu tun: "Erkenne mich, nimm mich wahr und sei ein Zeuge auf meinem Lebensweg." Wenn diese zwei Regeln gebrochen werden, fühlt sich der Partner allein, isoliert und manchmal unsichtbar.

STANDARD: Also zwei einsame Felsen in der Brandung werden nie ein Paar werden?

Gran: Die meisten Paare trennen sich nicht, weil sie einen anderen Partner gefunden haben, sie trennen sich, weil sie einen Menschen gefunden haben, der sie mehr als denjenigen wahrnimmt, der man zu sein glaubt. Sie verlassen eine Beziehung, um das eigentliche Selbst wiederzufinden. Und um sich wieder lebendig zu fühlen.

STANDARD: Wann sollte sich ein Paar also definitiv trennen?

Gran: Wenn man das Gefühl hat, man verschwindet, sich als fremd erlebt oder auch wenn man sein ganzes Vertrauen in sich selbst verliert. Eine Frau hat einmal zu mir gesagt: "Mein Mann wollte nie über meine Themen sprechen, meine Gefühle und Gedanken zählten nie für ihn." Als sie ihn verließ, fühlte sie sich schuldig, sie fühlte aber auch eine große Erleichterung.

STANDARD: Gibt es glückliche Trennungen?

Gran: Ja, nur oft dauert es ein bisschen. Meistens ist es ja so, dass sich Paare nach einer gewissen Zeit wieder freundlich begegnen. Und oft ist es so, dass der Partner, der sich nicht trennen wollte, in einer neuen Partnerschaft viel glücklicher ist. Es ist eher selten, dass man langfristig unglücklich bleibt. Mehr als 90 Prozent aller getrennten Paare kommen nach einer gewissen Zeit gut zurecht.

STANDARD: Wie kann man auf seine Beziehung aufpassen?

Gran: Ich denke, jede Partnerschaft hat drei Beziehungsebenen: das Ich, das Du und das Paarsein. Das Paar ist also das Wir, das emotionale Band. Jedes Wir ist einzigartig, es ist der mentale und emotionale Ausdruck von Gemeinsamkeit. Wenn sich Menschen trennen, wird dieses Fundament erst einmal erschüttert, weil das Wir weg ist.

STANDARD: Ihr Rat?

Gran: Menschen in Partnerschaften sollten sich öfter fragen, was für ihr gemeinsames Wir gut wäre. Sie sollten auf das Wir aufpassen. Manchmal kann das auch heißen, das Ich ein wenig in den Hintergrund zu stellen. Viele Menschen sind einfach sehr egozentriert. Wenn man sich mehr auf das Wir konzentriert, würden die Scheidungsraten sicher sinken.

STANDARD: Was hilft in Krisen?

Gran: Das, was für die meisten am schwersten ist, nämlich zugeben, dass man sich einfach sehr mies verhalten hat, und um Verzeihung bitten. Stattdessen suchen viele Rechtfertigung für ihr Verhalten, stellen sich als Opfer dar, schreien oder ziehen sich komplett zurück.

STANDARD: Was stattdessen?

Gran: Schwächen zugeben, Verletzlichkeit zeigen. Anstatt aus Zorn zu brüllen, ist es sicherlich besser zu sagen, dass man sich schämt, dass man sich zurückgewiesen fühlt. Oder dass man sich hässlich oder gemein fühlt. Oder geizig oder ungewollt. Das sind meistens die eigentlichen Ursachen für Zorn in Partnerschaften. Wenn sich Paare einander offenbaren, wenn sie über ihre Ängste und Sorgen sprechen, dann kommen sie meistens auch besser über harte Zeiten. Weil sie sich einfach gut kennen.

STANDARD: Welche harten Zeiten?

Gran: Das kann vieles sein. Kinder sind eine große Herausforderung für eine Partnerschaft, aber auch Krankheiten oder Situationen, in denen man seinen Job verliert oder eine blöde Affäre hat. Wenn man einander gut kennt, kommt man leichter über solche Krisen. Wenn man sich der gegenseitigen Schwächen bewusst ist, kann man dauerhafte Beziehungen aufbauen. (Karin Pollack, 23.6.2019)