Umweltfreundlich produzierter Strom spiele in Zeiten des Klimawandels eine zunehmend größere Rolle, sagt Verbund-Chef Wolfgang Anzengruber. Umfangreiche Investitionen seien dafür notwendig.

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Es ist ungewöhnlich heiß dieser Tage. Selbst im Büro von Wolfgang Anzengruber, Vorstandschef des mehrheitlich der Republik gehörenden Stromkonzerns im dritten Stock der Verbund-Zentrale in der Wiener Innenstadt steht die Luft. Ohne Sakko spricht es sich leichter.

STANDARD: Der heurige Mai war der kälteste seit 1991 – für den Verbund ein Grund zur Freude?

Anzengruber: Der Mai war nässer als im Vorjahr. Jetzt kommt noch Schmelzwasser von den Bergen. Was die Wasserführung betrifft, war das Jahr bisher gut.

STANDARD: Sehr viel Wasser, das Sie gratis zur Verfügung haben, um Strom zu produzieren?

Anzengruber: Wir liegen momentan etwa zehn Prozent über Durchschnitt. Wie es in den verbleibenden Monaten wird, wissen wir nicht. Es ist aber eine gute Basis.

STANDARD: Weil es nass und kalt war, hielten sich viele Menschen mehr drinnen als draußen auf. Das führt in der Regel zu höherem Stromverbrauch. War das so?

Anzengruber: Der Mai war diesbezüglich nicht so spektakulär. Was wir aber jetzt an heißen Tagen merken, ist der Effekt der Klimaanlagen.

STANDARD: Signifikant?

Anzengruber: Es werden immer mehr, auch beim Heizen geht es verstärkt in Richtung Wärmepumpe. Insgesamt nimmt der Stromverbrauch zu, aber nicht so stark. Signifikant mehr Nachfrage merken wir immer dann, wenn es der Industrie gutgeht.

STANDARD: Geht es ihr gut?

Anzengruber: Ich sehe eine stabil gute Situation, auch wenn sich das Wachstum zuletzt etwas abgeflacht hat.

STANDARD: Im Mai hat sich die FPÖ mit dem Ibiza-Video aus der Koalition gesprengt, die Regierung Kurz ist dann über ein Misstrauensvotum gestürzt. Inwieweit berührt das den Verbund?

Anzengruber: Unmittelbar nicht, mittelbar schon, weil Gesetzesvorhaben, die auf der Agenda waren, jetzt wohl länger brauchen. Das Ministerium hat beispielsweise an dem Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz (EAG) gearbeitet. Das wird sich nun verzögern, und das ist schlecht, weil das Zieldatum 2030 näher und näher rückt.

STANDARD: Andererseits hat Österreich eine Beamtenschaft, die sich auf das Machen von Gesetzen versteht. Wo ist das Problem?

Anzengruber: Die Beamten arbeiten gut, die bleiben auch. Aber es sind politische Initiativen, die umgesetzt werden müssen. Das Problem ist, dass es mangels ausreichender Fördermittel lange Warteschlangen an baureifen Projekten gibt und für größere Wasserkraftprojekte zudem die Fördersätze derzeit nicht ausreichen, damit sich Investitionen rechnen.

STANDARD: Vor Weihnachten wird die neue Regierung kaum stehen. Ist da auf die Schnelle noch etwas möglich?

Anzengruber: Man wird sehen. Ich gehe aber nicht davon aus, dass man das zeitgerecht hinbekommt.

STANDARD: Die Marschrichtung ist auf europäischer Ebene vorgegeben, Österreich hat den schrittweisen Ausstieg aus fossilen und den forcierten Ausbau erneuerbarer Energien mittels marktnaher Mechanismen mitbeschlossen. Es gibt also Orientierung?

Anzengruber: Aber der Rahmen, wie diese Ziele erreicht werden sollen, fehlt. Es heißt 100 Prozent erneuerbare Energien bis 2030, bilanziell, also übers Jahr gesehen. Wir werden alles, was wir zusammenkratzen können, brauchen, um dieses Ziel zu erreichen – ein schwieriges Unterfangen.

STANDARD: Wie groß ist die Lücke?

Anzengruber: Es geht um 25 bis 30 Terawattstunden (TWh) Strom, die wir zusätzlich benötigen – bei rund 70 TWh, die wir derzeit in Österreich pro Jahr verbrauchen. Man erwartet sich zusätzlich sechs bis acht TWh aus der Wasserkraft, von Wind und Fotovoltaik noch um einiges mehr, und das schon in zehn Jahren.

STANDARD: Worin liegt das Risiko?

Anzengruber: Eine Investition, ganz gleich in welche Technologie, kann nur dann stattfinden, wenn sie auch wirtschaftlich ist. Die Wirtschaftlichkeit ergibt sich entweder aus dem Markt oder über Förderungen. Wir können Windkraft, Fotovoltaik- oder Wasserkraftwerke nur bauen, wenn die Kapitalkosten gedeckt oder überdeckt sind.

STANDARD: Der Strompreis steigt, auch die CO2-Zertifikate sind teurer geworden – das kommt Ihnen doch entgegen?

Anzengruber: Aber es reicht nicht. Der Strompreis ist zwar gestiegen, entwickelt sich seit einem halben Jahr aber eher seitwärts. Der CO2-Preis ist auf 25 Euro die Tonne gestiegen, plätschert jetzt aber zwischen 22 und 25 Euro dahin. Wenn man die Förderungen wegdenkt, rechnet sich derzeit keine der Technologien.

STANDARD: Eine Marktprämie, wie sie im Gespräch ist, würde helfen?

Anzengruber: Schon. Deshalb wäre das EAG auch so wichtig, weil darin festzulegen ist, wie die Prämie ausgestaltet sein soll. Wir treten für eine flexible Prämie ein. Steigt der Strompreis, soll die Prämie sinken, fällt er, soll es entsprechend mehr Zuschuss geben. Wobei ich nicht davon ausgehe, dass der Strompreis fallen wird. Zudem soll jede Technologie einen eigenen Topf bekommen, weil es einen Unterschied macht, ob der Strom aus Wasserkraft, Fotovoltaik oder Wind kommt. Bei Wasserkraft gibt es einen viel höheren Anteil an gesicherter Leistung als bei den anderen.

STANDARD: Aber Wettbewerb innerhalb der Töpfe soll es geben?

Anzengruber: Ja, die besten Projekte sollen zuerst drankommen.

STANDARD: Wie viel kostet das?

Anzengruber: Bisher liegt die Ökostromförderung bei einer Größenordnung von rund einer Milliarde Euro pro Jahr. Will man das beibehalten, wird man einen Teil für die Restförderung bestehender Anlagen brauchen, einen Teil für Private, wenn sie sich Fotovoltaik auf das Dach installieren lassen, einen Teil wird man brauchen für die Biomasse, und den letzten Teil müsste man aufteilen für die Fördertöpfe Wind, Sonne, Wasser.

STANDARD: Hatten Sie schon Gelegenheit, mit Eduard Müller, dem neuen Finanzminister, zu sprechen?

Anzengruber: Noch nicht. Der Ball liegt derzeit bei Ministerin Patek. Sie ist zuständig für das EAG.

STANDARD: Hatten Sie mit ihr schon einen Termin?

Anzengruber: Noch nicht, aber demnächst.

STANDARD: Nun erwächst Ihnen auch noch Konkurrenz durch Unternehmen wie Shell. Europas größer Öl- und Gaskonzern will zwei bis drei Milliarden Euro pro Jahr in erneuerbare Energien investieren. Lässt Sie das kalt?

Anzengruber: Die sehen mittlerweile auch, was eine wachsende Technologie ist und was eine eher schrumpfende. Was immer stärker kommt, sind Power-to-Gas-Geschichten. Da gibt es Synergien zwischen Mineralöl- bzw. Gasfirmen und Unternehmen aus dem Bereich der Erneuerbaren. Wasserstoff wird heute noch ausschließlich aus Gas gemacht. Wir plädieren stark für grünen Wasserstoff, bei dem Strom aus erneuerbaren Quellen zum Einsatz kommt.

STANDARD: Shell-Chef Ben van Beurden ist überzeugt, dass sein Konzern als Neueinsteiger profitabler arbeiten kann als traditionelle Stromversorger. Was halten Sie dem entgegen?

Anzengruber: Das ist eine Ansage. Die sind auch gut und können skalieren. Wo werden die hingehen? Tendenziell in Offshore-Wind, denn im Offshore-Bereich haben sie dank ihrer Bohraktivitäten große Erfahrung. Wettbewerbsseitig mache ich mir keine Sorgen. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten so viel mehr Strom brauchen, dass auch Platz für Neueinsteiger ist. Der Kuchen ist groß genug. (17.6.2019)