Am 18. Juni 2019 feiert Jürgen Habermas seinen 90. Geburtstag. Sein philosophisches Œuvre ist beeindruckend, umfassend – seine hoher Rang als Philosoph ist weltweit anerkannt. Habermas' Arbeiten zur Diskursethik und kommunikativen Vernunft bilden Meilensteine der praktischen Philosophie. Im Kontext der politischen Herausforderungen der Gegenwart erscheint jedoch eines seiner Werke als besonders wichtig: Das 1992 erschienene Buch "Faktizität und Geltung", in dem Habermas seine Rechts- und Demokratietheorie darlegt.

Der Philosoph Jürgen Habermas feiert seinen 90. Geburtstag.
Foto: APA/EPA/MARTIN GERTEN

Was sind die Grundzüge dieser Demokratietheorie?

Jürgen Habermas geht davon aus, dass praktische Vernunft an einen auf Verständigung und Konsens mit anderen gerichteten Diskurs gebunden ist – eine Form des Gesprächs, das auf den Austausch divergierender Geltungsansprüche und die Kraft des besseren Arguments vertraut. In den Mittelpunkt des Habermas'schen an Deliberation gebundenen Demokratiemodells rückt somit die kooperative Meinungs- und Willensbildung.

Habermas warnt davor, politische Argumente und Diskurse auf Machtansprüche strategisch kalkulierender Akteure zu reduzieren, die als rationale Nutzenmaximierer ihre selbstbezogenen Interessen rein über zweckdienliche Kompromisse durchsetzen wollen. Für ihn steht Demokratie für die Suche nach Argumenten und sachlichen Gründen, mit denen faire Übereinkünfte im Spiel divergierender Einzelinteressen und Meinungen nicht nur erzielt, sondern auch als legitim gerechtfertigt werden können.

Habermas verdeutlicht seine Demokratiekonzeption über vier grundlegende normative Prinzipien: das Diskursprinzip, das Moralprinzip, das Demokratieprinzip und das Rechtsprinzip.

Das Diskursprinzip reflektiert Habermas' grundlegende These, dass Kommunikation an Normen gebunden ist und sich eine auf Verständigung mit anderen gerichtete Kommunikation nur über die Anerkennung der Anderen als Gleiche herstellen lässt. Und dieses grundlegende Prinzip einer Sprache auf Augenhöhe mit der oder dem Anderen liegt auch dem Demokratieprinzip zugrunde. Das Demokratieprinzip konkretisiert sich auf der Rechtsebene in subjektiven Freiheitsrechten (private Autonomie) und politischen Teilnahmerechten (öffentliche Autonomie). Der Bezug auf das übergeordnete Diskursprinzip sichert die Gleichursprünglichkeit und Gleichrangigkeit privater und öffentlicher Autonomie.

Autonomie in persönlichen und öffentlichen Sphären

Dem Demokratieprinzip kommt eine doppelte Funktion zu: Zum einen muss es die Erzeugung von Recht leiten und bestimmen, welche den Einzelnen zugesprochenen Rechte für eine auf Selbstorganisation und Gewaltfreiheit zielende Gesellschaft unabdingbar sind. Zum anderen muss das Demokratieprinzip ein Prozedere der legitimen Rechtsetzung definieren, das dem Prinzip vernünftiger demokratischer Willensbildung institutionell Ausdruck verleiht. Das Demokratieprinzip ist nicht an eine bestimmte ethische, moralische oder religöse Doktrin gebunden: es bleibt gegenüber verschiedenen Gründen offen. Der demokratische Diskurs umfasst also, wie Habermas schreibt, die Auseinandersetzung mit ethischen Gründen der Selbstverständigung, moralischen Gründen der Gerechtigkeit und pragmatischen Gründen der Zweckmäßigkeit.

Habermas zielt somit auf eine Gesellschaftskonzeption, die von einem demokratisch legitimierten Rechtssystem getragen ist, das allen Bürgerinnen und Bürgern Autonomie gewährleistet – und zwar sowohl in der persönlichen als auch in der öffentlichen Sphäre. Die private Autonomie konkretisiert sich in jenen individuellen Handlungsfreiheiten, die in Form subjektiver Rechte abgesichert werden. Subjektive Rechte sind staatlich garantierte Grundrechte, in denen sich der moralische Gehalt der Menschenrechte niederschlägt. Die öffentliche Autonomie drückt sich in der Möglichkeit aus, sich in jene öffentlichen Diskurse einzubringen, die ein Kernelement demokratischer Willensbildung darstellen. Politische Teilnahme- und Kommunikationsrechte gewährleisten die öffentliche oder staatsbürgerliche Autonomie.

Die Struktur von Habermas' Demokratietheorie lässt sich so veranschaulichen:

Foto: Herlinde Pauer-Studer

Trennung zwischen Moral und Recht

Habermas, und da folgt er gewissermaßen Hans Kelsen, trennt klar zwischen Moral und Recht. Moralische Einsichten in die Voraussetzungen für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben müssen in politischen Prinzipien oder in Rechtsgarantien Ausdruck finden. Die ungebremste Übertragung unserer persönlichen ethischen oder religiösen Überzeugungen in den öffentlichen Bereich läuft Gefahr, die eigenen Wahrheiten anderen aufzwingen zu wollen. Genau aus diesem Grunde hatte Kelsen den Schutz von Minoritäten, der auch den Schutz ihrer Gesinnungen und Geisteshaltungen umfasst, als das zentrale Anliegen der Demokratie definiert. Habermas sichert jenen, die nicht mit der Meinung der Mehrheit konform gehen, den notwendigen Schutz zu, indem er die Sicherung subjektiver Freiheit an das Demokratieprinzip bindet.

Welche Rolle spielt die Gleichheit in Habermas' autonomiebezogener Demokratiekonzeption? Die Idee der Gleichheit wird direkt thematisiert, wenn Habermas die Bürgerinnen und Bürger als freie und gleiche Rechtssubjekte definiert. Die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft sind insofern gleichgestellt, als ihnen die gleichen Grundrechte zukommen.

Doch wie sieht es mit der ökonomischen Gleichheit aus? Habermas spricht in "Faktizität und Geltung" wenig über ökonomische Verteilungsgerechtigkeit. Allerdings zählt er zu den Grundrechten auch soziale Rechte. Und er thematisiert zumindest die ökonomischen, technischen und ökologischen Voraussetzungen dafür, dass Gesellschaftsmitglieder über die gleichen Chancen verfügen, von ihren Rechten Gebrauch zu machen.

Taugt Habermas' Demokratiemodell für heute?

"Faktizität und Geltung" ist 1992 erschienen – es ist ein Werk des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Wie sieht es mit der Übertragung auf heute aus? Taugt dieses Demokratiemodell noch für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Wie steht es um den Begriff kommunikativer Vernunft in Zeiten der sozialen Medien? Gilt im Zeitalter der Digitalisierung die Vorstellung, dass gelingende Diskurse mit anderen an deren Anerkennung als Gleiche gebunden sind, als überholt? Sind aus der Besinnung auf die normativen Gehalte fairer Sprachformen, aus denen sich letztlich auch die normativen Grundlagen demokratischer Verhältnisse herleiten, überhaupt noch Hilfestellungen für den Umgang mit Fake-News, Manipulation und mit der bewusst geplanten digitalen Unterwanderung von Demokratien zu gewinnen? (Herlinde Pauer-Studer, 17.6.2019)