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Zahlreiche Istanbuler verfolgten die TV-Debatte zwischen Ekrem İmamoğlu (li.) und Binali Yıldırım.

Foto: AP Photo/Emrah Gurel

Dass Demokratie oft eben auch harte Arbeit, Diskussion und Langeweile bedeutet, konnten am Sonntagabend Millionen von türkischen Fernsehzuschauern erleben. Drei Stunden lang duellierten sich die beiden Bürgermeisterkandidaten von Istanbul, Ekrem İmamoğlu und Binali Yıldırım. Viele türkische Medien sprachen von einer historischen Debatte, denn das TV-Duell war das erste seine Art seit 17 Jahren.

Nun ist man von der türkischen Politik einiges gewohnt: Der Ton ist für mitteleuropäische Verhältnisse oft rau, Beschimpfungen sind an der Tagesordnung, gern wird der politische Gegner mit Terroristen und Kriminellen gleichgesetzt. Die Debatte aber, die am Sonntagabend ab 21 Uhr von allen türkischen Fernsehsendern gleichzeitig übertragen wurde, verlief erstaunlich zivilisiert und gesittet. Es moderierte der etablierte und als relativ kritisch geltende Journalist İsmail Küçükkaya. Die Redezeit wurde gestoppt, sodass jeder der beiden Kandidaten dieselbe Zeit hatte, um dieselben Fragen zu beantworten.

Vorwürfe zum Wahlabend

Küçükkaya eröffnete die Debatte mit einer Frage zum Wahlabend des 31. März. AKP-Kandidat Yıldırım hatte sich damals noch vor Mitternacht zum Sieger erklärt. Kurz darauf hatte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu die Übertragung der Stimmauszählung gestoppt. Erst am nächsten Morgen war klar geworden, dass İmamoğlu die Wahl mit einem hauchdünnen Vorsprung gewonnen hatte. Wie es angesichts dieser Tatsachen sein könne, dass Yıldırım von einer gestohlenen Wahl spreche? Yıldırım entgegnete, die AKP habe zu diesem Zeitpunkt in den meisten der Bezirke vorne gelegen, es sei insofern nur selbstverständlich gewesen, von einem Sieg auszugehen. Zum Übertragungsstopp Anadolus könne er nichts sagen.

İmamoğlu musste sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, er habe während seiner zweiwöchigen Periode als Bürgermeister die Datenbanken der Stadtverwaltung kopieren lassen und damit die Privatsphäre der Istanbuler Bürger verletzt. Tatsächlich dürfte es der CHP wohl darum gegangen sein, Korruption und Misswirtschaft aufzudecken. İmamoğlu sprach von Bürgerbeschwerden, die ihn dazu veranlasst hatten.

Flüchtlingskrise

Yıldırım betonte nochmals die Leistungen seiner Partei für die seit 25 Jahren von der AKP regierten Metropole. Auch Kritiker würden zustimmen, dass diese beachtlich seien. So betonte er, 1994 hätte ein Istanbuler 14 Liter Wasser zur Verfügung gehabt, heute seien es 101 Liter. Grünflächen hätten sich in diesem Zeitraum versechsfacht. Beide Kandidaten betonten, wie wichtig die Schaffung von Arbeitsplätzen in den kommenden Jahren sei. Im Großraum Istanbul, der für rund 40 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung verantwortlich ist, sind derzeit rund 460.000 Menschen, etwa 15 Prozent, ohne Arbeit.

Auch die 500.000 syrischen Flüchtlinge in Istanbul waren ein Thema in der Debatte. Für Aufruhr hatte kürzlich ein CHP-Bürgermeister nahe Busra gesorgt, der Syrern die Benutzung des Strandes verbieten wollte. Das sei natürlich unmenschlich, sagte İmamoğlu, man müsse sich aber verstärkt um minderjährige Flüchtlinge kümmern und ein spezielles Amt für die Belange der Syrer einrichten. Yıldırım wies darauf hin, dass die Türkei zu wenig internationale Unterstützung für diese gewaltige Aufgabe bekommen habe.

Veteran der türkischen Politik

Insgesamt wirkte İmamoğlu agiler und energetischer als sein um 14 Jahre älterer Gegner Yıldırım, der als Veteran der türkischen Politik gilt – vor der Einführung des Präsidialsystems 2017 war Yıldırım der letzte Ministerpräsident der Türkei gewesen.

Unwahrscheinlich ist es, dass die Debatte einen maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis der Wahl am 23. Juni haben wird. İmamoğlu führt laut Umfragen nicht nur, er konnte seinen Vorsprung gegenüber Yıldırım in den vergangenen Wochen sogar ausbauen.

Am Ende der dreistündigen Debatte posierten die beiden Kandidaten mit ihren Familien für ein gemeinsames Foto. So zivilisiert kann türkische Demokratie sein. Am folgenden Morgen aber beschimpften die regierungsnahen Blätter İmamoğlu wieder als Lügner und Stimmendieb – alles wieder normal also. (Philipp Mattheis, 17.6.2019)