Viel Aufwand, wenig Ergebnis? Das ist die Frage.
Foto: APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ

Die Wissenschaftspolitik steckt voller wunderlicher Begrifflichkeiten und Tropen. "Grundlagenforschung", "Interdisziplinarität", "MINT" und "GSK" – alles Versuche, die unüberschaubare Landkarte wissenschaftlicher Praktiken und Institutionen nach bestimmten Vorstellungen zu ordnen und bürokratisch handhabbar zu machen. Die historische Forschung hat zuletzt die Entstehungsgeschichte mancher dieser Konstrukte und ihren Entstehungskontext eingehender untersucht, wie etwa den Begriff des "basic research" (Grundlagenforschung).

In der europäischen Innovationsforschung gibt es so ein Konstrukt, das seit nun bald 30 Jahren für viel hin und her in der Szene sorgt: das "europäische Paradox". Und das ist die Geschichte, die es erzählt: In Europa gibt es hervorragende wissenschaftliche Leistung, ohne dass sie sich merkbar auf die ökonomische Performance auswirken würde. "La science pour la science"? Zunächst ist das eine Vermutung, eine Hypothese bestenfalls. Indizien gibt es zwar, aber keine direkten Beweise. Ob die Hypothese stimmt, hängt davon ab, wie man misst, was man da zu belegen (oder zu widerlegen) versucht.

Der Zweck dahinter

Wie auch bei anderen Konstrukten folgte die Entstehung des "europäischen Paradox" einem politischen Zweck. Generell besteht der oftmals einfach darin, der immerwährenden Frage der Mittelzuteilung und auch der Mittelverteilung einen bestimmten Drall zu geben. Oder eine bestimmte (neue) Richtung zu legitimieren. Die europäische Kommission hat vom Paradox in den 1990er Jahren durchaus auch deshalb zu sprechen begonnen, um die eher "angewandte", kooperative Orientierung ihrer damaligen Forschungsrahmenprogramme abzusichern.

Die Debatte über das europäische Paradox zog sich bis in die 2000er, als sich dann eine Art Kompromiss fand: Einerseits begann ein neues Wort die Szene zu dominieren, jenes der "Innovation". Andererseits argumentierten Kritiker – also jene, die an die Geschichte des "europäischen Paradox" nicht so recht glauben wollten –, dass es auch mit der wissenschaftlichen Leistung Europas gar nicht so weit her wäre wie angenommen. Auch diese Gegenerzählung war durchaus nicht absichtslos, war sie doch die Basis, um ein europäisches Förderinstrument für die akademische Forschung zu fordern.

Der Faktor Bibliometrie

Es wurde dann ab Mitte der 2000er auch eher still um das Paradox, weil die zentrale Auseinandersetzung über die Mittelallokation geregelt schien. Bloß die akademische Zunft hat das Thema nicht aufgegeben. In den einschlägigen wissenschaftlichen Journals finden sich bis in letzte Zeit Beiträge, die sich damit auseinandersetzen. Ich werde allerdings den Verdacht nicht los, dass es aber auch zunehmend dazu dient, um neuere Methoden der Bibliometrie praktisch zu erproben.

Ich habe anderswo schon ausgeführt, wie voraussetzungsvoll und problematisch die Datenbasis bei bibliometrischen Daten oftmals ist; das ist bei Kontinentalvergleichen wie dem zwischen USA und Europa nicht anders. Meine Behauptung ist von daher vielleicht nicht ganz gewagt, dass es eine letztgültige Antwort, ob das "europäische Paradox" überhaupt existiert, nicht gibt. Bemerkenswerterweise wird zuletzt aber wieder öfters vom Paradox gesprochen – etwa hier oder auch hier. Der Verdacht liegt nahe, dass das in Zusammenhang stehen könnte mit der nächsten Auflage des EU-Forschungsrahmenprogramms, im Zuge dessen es immer auch ein Gerangel um die Geldtöpfe darin gibt.

Zoom auf Österreich

Vielleicht macht es ja Sinn, neben das europäische auch ein österreichisches Paradox zu stellen. Dazu einmal ein in der Fachwelt bekanntes Faktum: Österreich investiert im Vergleich zu anderen Industrienationen verhältnismäßig viele öffentliche Mittel in Forschung und Entwicklung, wendet davon aber zugleich verhältnismäßig wenig für akademische Forschung auf. Mit anderen Worten: Es gibt viel Unterstützung für betriebliche und industrielle Forschung, nicht zuletzt durch die so genannte Forschungsprämie, während der für akademische Forschungsförderung zuständige FWF finanziell an der eher kurzen Leine gehalten wird. (Österreich gibt freilich auch anteilsmäßig viel von seinem R&D-Geld an die Hochschulen, aber dort wird es natürlich nur zum Teil für Forschung wirksam.)

Thematisiert wird diese doch recht untypische Verteilung immer wieder in diversen Berichten (zuweilen ganz gut versteckt, aber zum Beispiel hier, hier und hier. Aber ein Paradox hat darauf meines Wissens noch niemand begründet; ich will es also gern als Erster versuchen.

Brett vorm Kopf bittet um Entfernung

Österreich hat nämlich auch – wie es in einem der oben verlinkten Berichte im R&D-Sprech so schön heißt – eine "overall input-output transfer weakness". Soll heißen, obwohl insgesamt viel Steuergeld in Forschung und Entwicklung gesteckt wird, ist die Performance Österreichs im Bereich der technologischen Innovation nicht berauschend. Nun wäre es naheliegend zu vermuten, dass diese Schwäche eben an der (im OECD-Vergleich!) untypischen Gewichtung der öffentlichen Mittel für R&D liegen könnte. Und, voila, das Paradox: Bisher ist noch kein heimischer Politiker auf diese naheliegende Idee gekommen.

Oder, um ganz fair zu sein: Natürlich wird diese Idee immer wieder mal lanciert. Deshalb ist sie ja naheliegend. Trotzdem sind österreichische Bundesregierungen – egal welcher Couleur – in den letzten zehn Jahren immer wieder gern bereit gewesen, über Steuernachlässe die im internationalen Vergleich ohnehin schon sehr hohen Ausgaben für Entwicklung im Unternehmensbereich noch weiter hinaufzuschrauben, während die akademische Forschung via FWF kleingehalten wird. Warum? Möge der geneigte Leser eine Hypothese bilden.

Ein selbstkritischer Nachsatz: Wirklich durchsetzen als Trope der österreichischen Forschungspolitik wird sich das "österreichische Paradox" wohl nicht. Und auch für die begleitende Forschung bietet es wenig Herausforderungen: Anders als beim europäischen braucht es für den Nachweis des österreichischen Paradoxes keine aufwändige Bibliometrie. Es würde genügen, das Brett vorm Kopf, welches von wem auch immer so wirkungsvoll angeschraubt wurde, mal für ein paar Jahre fachmännisch zu entfernen. (Thomas König, 18.6.2018)