Der Mann hat das tatsächlich so gesagt. Vor über 400 geladenen Gästen. Er stand auf der Bühne und referierte über die Unternehmensgeschichte. Und als er zu den harten Zeiten kam, kam tatsächlich dieser Satz. Wörtlich: "Sometimes you have to bite into the sour apple." Erstaunlicherweise erstarrten nur ich und meine Kollegen aus der Kommunikationsabteilung zu Salzsäulen.

Die regulären, geladenen Zuhörer zuckten mit keiner Miene. Vielleicht lag das ja daran, dass der Mann vorn der CEO eines Internationalen Konzerns war. Privatjet und so … Damals, vor etlichen Jahren und in einem anderen Leben, war er mein Chef. Outsourcen konnte er wie kein Zweiter. Auch das Schämen. Ich kannte den Begriff "Fremdschämen" damals noch nicht – aber ich lernte es hier und jetzt: "Sometimes you have to bite into the sour apple." Den Satz werde ich seither nicht mehr los. Und manchmal passt er ja sogar.

Foto: © www.169k.net / Granadia

Natürlich hat die Ansage von damals nichts mit dieser Geschichte zu tun. Aber sie fiel mir ein, als mich Horst Watzl, einer der Veranstalter von "In Velo Veritas", vor ein paar Wochen einlud, vergangenen Sonntag doch bei der neunten Auflage des Klassikers mit den Klassikern mit zu fahren: Sogar ein Rad, das den strengen Auflagen der Retro-Rennrad-Gemeinde entspräche, habe er für mich.

Und ich könne mir aussuchen, ob ich eine 70-, 140- oder 210-Kilometer-Runde machen wolle. Auch ein Zimmer in Poysdorf gäbe es. Unter normalen Bedingungen hätte ich vor Freude Luftsprünge gemacht. Weil: Schöner geht ja wirklich nicht. An der Ausfahrt mit den alten Rädern ("nach 1986 darf keines gebaut sein") hätte ich gerne auch als zahlender Gast teilgenommen. Aber "sometimes you have to bite int the sour apple": Ich war anderweitig verpflichtet.

Foto: © www.169k.net / Granadia

Am Montag sah ich dann die Fotos, die Martin Granadia, Österreichs bester Rad-Fotograf (ich getraue mich das Wort "Blogger" nicht wirklich zu verwenden), unterwegs gemacht hatte. Granadia schreibt mit www.169k.net einen der feinsten Radblogs von überhaupt. Und er war, eh klar, bei der Runde durch das Weinviertel dabei.

So wie Florian Holzer. Der Gastrokritiker und Retrorennradsammler erzählte mir von einer "grandiosen, denkwürdigen und extrem anstrengenden Ausfahrt, die alles, wirklich alles, hatte": extreme Hitze. Supersteile Anstiege. Harte Abfahrten auf Kopfsteinpflaster. Heftige Gewitter, bei denen ein Teilnehmer sogar vom Blitz getroffen worden sei ("Es ging ihm gut, ich glaube, er hat sich mehr darüber geärgert, dass er dann eine Reifenpanne hatte") – und das Feeling, das man nur bei solchen Ausfahrten bekommt. "Sometimes you have to bite…" Leider: Ich war anderweitig verpflichtet.

Foto: © www.169k.net / Granadia

Das hatte mich auch schon die Woche zuvor gewurmt: Da hatte nämlich Andreas Sachs zur "Siteinspection" an den Ottensteiner Stausee eingeladen. Sachs richtet dort den "Backwaterman" aus – und auch wenn es diese Veranstaltung schon länger gibt, soll das heuer etwas ganz Besonderes werden. Denn noch im Winter hatte es geheißen, dass der Backwaterman heuer nicht nur als Freiwasserschwimmbewerb, sondern auch als "Ötillö" ausgetragen werden würde. Ötillö steht als Marke für Swimrun-Events so wie der Ironman für Triathlon. Und Swimrun ist exakt das, was der Name sagt: ein stetes Wechselspiel von Schwimmen, Laufen, Schwimmen, Laufen, Schwimmen … Allerdings gibt es keine Wechselzonen: Man muss alles Equipment immer bei sich haben.

Heftig – aber ein großartiger Spaß. Ich war vor drei Jahren einmal beim Ötillö-Hauptevent im Schärengürtel Stockholms dabei. Die Veranstalter hatten mir einen Startplatz angeboten, aber ich war verletzt. Heute weiß ich: zum Glück. Ein Jahr später war ich im Engadin dabei. Eh nur auf der Kurzdistanz. Und auch die war knallhart.

Foto: Sachs

Dass beim Backwaterman im Waldviertel das Schwedenlogo nun nicht auf auf den Plakaten prangt, hat weniger inhaltliche als PR- und regionalmarketingtechnische Gründe. Auf alle Fälle gab es in den letzten beiden Wochen "Siteinspections" über jeweils die halbe Backwater-Swimrun-Marathon-Distanz. Also kumuliert jeweils rund vier Kilometer schwimmen und 21 laufen. In, wie es nicht zu Unrecht heißt, "der fjordartigen Landschaft" in Niederösterreich. Wunderschön. Ob ich mitspielen wolle, hatte Sachs gefragt. Beim Event ebenso wie bei den Besichtigungen. Ich biss vor Ärger in den – äh – "sour apple": Ich war und bin eben anderswo verpflichtet.

Nicht nur für die Siteinspections: Der Backwaterman ist am 6 und 7. Juli. Das ist nicht nur das Wochenende, an dem heuer im Engadin der Schweizer Ötillö stattfindet, sondern auch der Triathlonklassiker der "Challenge Roth". Und der Ironman in Klagenfurt. Für den habe ich mich angemeldet. Schon im Vorjahr, gleich am Tag nach meiner Langdistanz-Premiere (im Bild: der letzte Schwimmkilometer im Lendkanal). Keine Ahnung, wer oder was mich da geritten hat.

Foto: ©distlberger

Wieso aber in einem geografisch relativ engen Gebiet am gleichen Tag vier Veranstaltungen abgehalten werden, die auf ziemlich die gleiche Zielgruppe schielen, dürfen Sie mich nicht fragen: Dass Klagenfurt und Roth am selben Tag laufen, hat Tradition. Aber dann mit einer neuen Veranstaltung punktgenau … egal: Ich beiße eben in den Apfel. Weniger weil ich Startplatz und Hotel in Klagenfurt schon lange bezahlt habe, eher als aus sozialen Gründen. Freunde. Kollegen. Mein Team. Nicht, dass die mich brauchen würden (es ist eher umgekehrt), aber wenn man sich in der Gruppe auf etwas vorbereitet, entsteht da ein ganz eigenes Ding.

Das hat viel mit Gefühlen, Freundschaft und (Wahl-)Familie zu tun – also den wichtigen Dingen im Leben. Und nur als Topping ein bisserl mit der eigenen sportlichen Leistung. Oder den Erwartungen, die man (zumindest ich) an sich selbst stellt: Dass ich den 70.2 in St. Pölten – also die Mitteldistanz mit 1,9 km Schwimmen, 90 Radkilometern und einem Halbmarathon vor ein paar Wochen schon irgendwie runterwuzeln können würde, hatte ich vorher gewusst. Dass es mir dann weit besser als erwartet gehen würde, nicht. Bei der Langdistanz bin ich da alles andere als sicher. 3,8/180/42 ist ein anderes Kaliber.

Foto: thomas rottenberg

Vor allem weil ich (ganz ohne Koketterie) weiß, dass ich heuer im Vergleich zum Vorjahr weniger drauf habe. Weniger Zeit, weniger Herz und weniger Energie ins Training investiert habe. Ich habe andere, umfangreichere und anspruchsvollere Arbeitszeiten.

Und spüre zum ersten Mal wirklich, dass Älterwerden bedeutet, dass Regeneration mehr Zeit braucht. Routine? Vergessen Sie es. Das Tempo, mit dem jüngere Vereinskolleginnen oder -kollegen Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit aufbauen und nach kürzester Zeit dort sind, wo ich in diesem Leben nicht mehr hinkomme (und ich rede ausschließlich vom Freizeitsport- und Amateurlevel), ist geradezu furchteinflößend. Manchmal auch frustrierend. Aber: na und? Ich will aus 1.000 Gründen nicht wieder 25 sein. Und das Leben macht ja trotzdem Spaß.

Nur braucht man halt ein bisserl Disziplin, um jenes Mindesttrainingspensum durchzudrücken, das die Grundlage dafür ist, um überhaupt darüber nachdenken zu können, ob es nicht einfach nur zwischen dumm oder wahnsinnig oder doch schon grob fahrlässig firmiert, da überhaupt zu starten. Ganz abgesehen davon, dass dann ein verknaxter Knöchel oder irgendwas Falsches im Futter in der Woche davor ein ganzes Jahr Vorbereitung in der Sekunde zunichte machen können. Einfach so. Das ist eben so – und dass man dann die durchaus geschmalzenen Startgebühren nicht zurückbekommt, ist noch das geringste Drama.

Foto: thomas rottenberg

Apropos Geld: Dass das in Summe sauteuer ist, ist mir bewusst. Startgebühren, Ausrüstung, Rad, das Training, Physio, Yoga, Schwimmbäder, Fitnesscentern, Sportplätze, Hotels, Reisen – vermutlich wäre Golf günstiger. Nur: na und? Wir reden hier weder von Grundnahrungsmitteln noch von Schulbildung, Trinkwasser oder medizinischer Grundversorgung.

Niemand wird gezwungen mitzuspielen – und sobald es bei etwas so Überflüssigem wie einem Hobetten-Triathlon Menschen gibt, die bereit sind, den Preis am Preisschild zu zahlen, ist der auch gerechtfertigt: Ironman ist wie Skifahren. Lustig – aber kein Grund- oder Menschenrecht.

Foto: thomas rottenberg

Zurück zum sauren Apfel: Wenn schon reinbeißen, dann aber auch richtig. Gerade in den letzten Wochen vor dem Bewerb. Parallel zum Job. Zur Familie (okay: die muss mitspielen, sonst hat man bald keine mehr).

Und das bedeutet: Nicht früh, sondern sehr früh raus.

Die Blicke der Kollegen, wenn man um neun in der Früh zum ersten Meeting kommt und bereits 90 Kilometer am Rad oder 17 Kilometer Laufintervalle in den Beinen hat, sprechen Bände. Ich rede mir halt ein, dass da mehr Bewunderung als "du hast ja so einen Pascher" drinsteckt. Aber vermutlich rede ich es mir einfach schön.

Foto: thomas rottenberg

Obwohl: Irgendwann kriegt man es dann schon mit. Etwa, wenn die Bürokollegin einem Besucher just in dem Augenblick, in dem du ins Zimmer kommst, erklärt, dass "dieser tropfende Gummianzug im Eck eh noch harmlos ist: Wenn er in der Früh beim Freiwasserschwimmen – das heißt Neue Donau und nicht Schwimmbad – war, riecht hier zumindest nicht alles nach Chlor."

Und wenn der freundliche Mann aus der Poststelle irgendwo aufschnappt, wie viel Geld mittlerweile im Rad steckt und er vollkommen entgeistert ist, dass man trotzdem – "ja, Mesud, ganz bestimmt und wirklich nicht" – keinen Platz unter den top drei machen wird. "Wievielter wirst du denn sonst werden? Schon unter den ersten zehn, oder?" Nö, bestenfalls top 3.000. "Kein Scheiß? Das ist doch voll sinnlos dann." Ja eh. Trotzdem lustig. "Krass, Alter. Das ist doch krank. Ich versteh Leute wie dich voll nicht."

Foto: thomas rottenberg

Aber genau deshalb lebt man ja in der eigenen Blase. In einer Welt, in der alle genauso verrückt sind wie man selbst, muss man sich nicht rechtfertigen. Ganz im Gegenteil: Wahnsinn verbindet.

Als ich vergangene Donnerstag noch vor halb sieben Uhr morgens am obersten Zipfel der Donauinsel zwei Männer einholte, die so wie ich tief auf ihren Aero-Lenkern lagen, sagte ich beim Überholen "Guten Morgen."

Ich hatte die beiden noch nie gesehen. Sie kannten mich auch nicht. Sie blickten nicht einmal wirklich zur Seite, sondern stellten ansatzlos und ohne jedes Vorgespräch oder Fragen fest, dass wir zum gleichen Rudel gehörten: "Nur noch drei Wochen. Wird eng. Aber wir ziehen das durch: Es gibt jetzt nix anderes mehr. Auch wenn es wehtut."

Oder eben mit den Worten meines ehemaligen CEOs: "Sometimes you have to bite into the sour apple." (Thomas Rottenberg, 18.6.2019)

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