Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein beobachtet ein allzu freihändiges freies Spiel der Kräfte im Parlament mit Blick auf die finanziellen Folgen mit einiger Skepsis.

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Brigitte Bierlein ist in einer etwas paradoxen Lage: Sie ist zwar Bundeskanzlerin einer verfassungsrechtlich voll handlungsfähigen Regierung und könnte all das tun und machen, was ein Bundeskanzler der Republik Österreich – oder jetzt eben eine Bundeskanzlerin – tun könnte. Tut sie aber nicht, weil sie die Umstände ihrer Kanzlerschaft, der von ihr geführten "Übergangsregierung", wie sie sie selbst nennt, so interpretiert, dass sie eben "nicht dasselbe auf den Weg bringen kann" wie eine gewählte Regierung, wie sie Dienstagfrüh bei einem Medientermin im Kanzleramt betonte.

Ihr Selbstverständnis als Regierungschefin, die vom Bundespräsidenten installiert wurde, besteht darin, die Republik nach dem politischen Reifenplatzer durch das berüchtigte Ibiza-Video mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, in dessen Folge auch ÖVP-Chef Sebastian Kurz per Misstrauensantrag des Parlaments das Steuer im Kanzleramt abgeben musste, bis zur Angelobung einer neuen Regierung bestmöglich und möglichst geräuschlos am Laufen zu halten.

STANDARD: Haben Sie nicht mitunter das Gefühl, dass Sie durch Ihr selbstauferlegtes Selbstverständnis für Ihr Kabinett Ihren Handlungsspielraum zu sehr eingeengt haben, also quasi eine So-als-ob-Kanzlerin sind. Würden Sie nicht auch lieber mehr gestalten als nur verwalten?

Bierlein: Wir haben uns in dieser Sonderkonstellation mehr Zurückhaltung auferlegt, weil wir kein vom Wähler, von der Wählerin indirekt bezogenes Mandat haben. Natürlich könnten wir auch anders handeln, aber ich glaube, dass das nicht im Sinne unserer Republik wäre. Es wäre nicht sinnvoll, in dieser Periode als Regierung neue Initiativen zu setzen.

Das Parlament mit den gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten der Wählerinnen und Wähler ist denn auch in der Rolleninterpretation der neuen Kanzlerin und ihres Kabinetts die zentrale Referenz. Es sind vor allem die Abgeordneten, die Bierlein jetzt am Zug sieht.

Wenngleich vielleicht ein bisschen zu sehr am Zug. Denn das doch recht extensiv angelegte "freie Spiel der Kräfte", das sich gleich in der ersten Nationalratssitzung mit der neuen Regierung entfaltete, habe sie doch "überrascht", sagte Bierlein. Zwar ohne den Zusatz negativ, den sich die mit jeglicher politischer Äußerung sehr defensiv agierende Kanzlerin unbedingt verkneift, aber zwischen den Zeilen war doch zu hören, dass sie die dutzenden Anträge, die in verschiedensten Farbkombinationen beschlossen wurden, doch etwas irritiert haben: "Es steht dem Parlament ja zu. Ich hätte nur nicht erwartet, dass das gleich am ersten Tag, an dem sich die neue Regierung präsentiert, passiert. Ich hatte den Eindruck, dass manche ganz ad hoc Unterschriften geleistet haben und dass da manches ganz plötzlich gemacht wurde. Wenn es zu viel würde, werden wir uns im Ministerrat allenfalls in Absprache mit dem Bundespräsidenten überlegen, wie wir damit in Zukunft umgehen", sagte Bierlein mit Blick auf erste Schätzungen des Finanzministers, der von rund 100 Millionen Euro ausgeht, die die Realisierung der bunten Anträge kosten würde. Sie selbst will für den Rest der Legislaturperiode "ein schmales Budget fahren".

Denn Bierlein ist sehr darauf bedacht, der Nachfolgeregierung keine Altlasten zu hinterlassen oder irgendwelche Dinge zu präjudizieren. Weder finanzielle Altlasten noch wichtige personelle Entscheidungen. So will sie etwa nicht bestimmen, wer ihr an der VfGH-Spitze folgen soll: "Wir haben uns geeinigt, das wir etwa ab Stufe Sektionschef nach Möglichkeit nicht mehr nachbesetzen", sagte die Regierungschefin.

Eine andere personalpolitische Entscheidung von Türkis-Blau hat Bierlein hingegen mit einer der ersten Amtshandlungen mit ihrem Regierungsteam rückabgewickelt. Die umstrittenen Generalsekretäre (abgesehen von jenem im Außenamt, der eine traditionell andere Rolle innehat) wurden wieder abgeschafft. Diese in der Ministerialbürokratie platzierten politischen Verbindungsleute seien "in den Ressorts nicht wirklich gut angekommen".

Eine Nachbesetzung muss allerdings auf jeden Fall in ihrer Amtszeit gefällt werden, nämlich wen Österreich als nächsten EU-Kommissar oder als EU-Kommissarin, der oder die auf Johannes Hahn folgt, nach Brüssel schickt. "Da müssen wir sicher handeln. Das ist von dieser Regierung zu machen" – allerdings in enger Abstimmung mit dem Hauptausschuss des Parlaments, der heute, Mittwoch, tagt. Bierlein braucht eine "mehrheitsfähige Persönlichkeit" und die Zustimmung der Fraktionen. Am Donnerstag fliegt sie nach Brüssel zum zweitägigen EU-Gipfel, wo die Staats- und Regierungschefs die Neubesetzung des Postens des EU-Kommissionspräsidenten diskutieren.

Da kommt indirekt auch ihr Vorgänger im Kanzleramt ins Spiel. Denn Sebastian Kurz ist als ÖVP-Chef eine der treibenden Kräfte hinter dem Engagement für den Deutschen Manfred Weber, den sich die Europäische Volkspartei (EVP) als Nachfolger von Jean-Claude Juncker wünscht. Wird sie den von ihrem Vorgänger präferierten Weber unterstützen? Kurz erwartet das jedenfalls, hat er unlängst wissen lassen.

STANDARD: Tauschen Sie sich da mit ÖVP-Chef Sebastian Kurz aus?

Bierlein: Ich habe mich mit dem Altbundeskanzler seit Amtsantritt nicht getroffen und auch nicht ausgetauscht. Keinerlei Kontakt.

STANDARD: Das ist ungewöhnlich.

Bierlein: Warum sollte ich? Ich denke mir, diese türkis-blaue Regierung ist nicht mehr vorhanden. Warum sollte ich mich austauschen? Ich will und wollte nicht den Eindruck erwecken, dass wir die türkis-blaue Regierung quasi fortsetzen. Ich hatte Kontakt mit allen Parteichefs, aber noch nicht mit ihm. Ich werde aber auch mit ihm noch Kontakt suchen.

Nun ja. Mit Erwartungen ist das so eine Sache. So wenig, wie Bierlein weit in die Zukunft regieren will, so wenig will sie im Schatten der türkis-blauen Vergangenheit agieren. Sie scheint auf eine sehr klare Abgrenzung zur alten Regierung bedacht zu sein: "Wovon mein Vorgänger ausgeht, entzieht sich meiner Kenntnis." Zum Erstaunen der anwesenden Journalistinnen und Journalisten berichtete die Kanzlerin davon, dass es zwischen ihr und dem jungen Altkanzler seit der neuen Rollenverteilung noch keine einzige Kontaktaufnahme gab.

Mit den anderen Parteichefinnen und -chefs und den Klubobleuten im Parlament steht Bierlein so wie mit Alexander Van der Bellen in regem Austausch. Kurz hat ja sein Nationalratsmandat nicht angenommen und nach seiner Abwahl angekündigt, durch Österreich touren zu wollen, "um bei den Menschen um Unterstützung für die Fortsetzung seines Kurses zu werben".

Irgendwann am Dienstag zwischen 9.30 Uhr und frühem Nachmittag war es dann aber so weit. Bierlein und Kurz haben ihre Gesprächspremiere von Kanzlerin zu Exkanzler bzw. ÖVP-Chef hinter sich gebracht und "bald" ein Treffen vereinbart, wurde gegen 14.30 Uhr verlautet. Sie habe zu allen Parteichefs ein "korrektes und konstruktives Verhältnis im gleichen Maße". (Lisa Nimmervoll, 18.6.2019)