Rory Stewart verlässt nach einem Termin mit Premierministerin Theresa May deren Residenz in der Downing Street 10.

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Wer ist der "Stop Boris"-Kandidat? Im Vorfeld der zweiten Abstimmung in der konservativen Fraktion am Dienstagabend drehten sich die Gespräche im britischen Parlament und in der Öffentlichkeit nur wenig um Boris Johnson, den Favoriten für die Nachfolge Theresa Mays als Parteichef und Premierminister. Vielmehr konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf Entwicklungshilfeminister Rory Stewart. Dessen spontaner Straßenwahlkampf hat nicht nur die etablierteren Rivalen in den Schatten gestellt und ihnen Angst eingejagt. Offenbar überzeugt der 46-Jährige auch eine wachsende Anzahl von Parlamentariern: Mit 37 Stimmen zog Stewart problemlos in die nächste Runde ein.

Die 313 Mitglieder der Regierungsfraktion müssen nun am Mittwoch und Donnerstag so lange abstimmen, bis die zwei Bestplatzierten übrigbleiben. Über den neuen Partei- und Regierungschef entscheiden dann die rund 160.000 Mitglieder der Tories.

Johnson klar voran

Wie im ersten Wahlgang vergangene Woche lag Johnson auch am Dienstagabend mit 126 Stimmen klar vor Außenminister Jeremy Hunt (46) und Umweltminister Michael Gove (41). Während die Zugewinne des Trios bescheiden ausfielen, konnte Stewart die Zahl seiner Anhänger beinahe verdoppeln. Innenminister Sajid Javid erreichte genau die diesmal notwendige Anzahl von 33 Stimmen, Ex-Brexitminister Dominic Raab schied als Letztplatzierter aus.

Noch am Abend prallte das Quintett zum ersten Mal bei einer TV-Debatte aufeinander – und wie schon bei einer ersten Debatte am Sonntag wies Stewart auf die vielfältigen Widersprüche in Johnsons Aussagen hin. Tatsächlich versammelt der frühere Londoner Bürgermeister Anhänger hinter sich, deren politische Sichtweisen weit auseinanderliegen, nicht zuletzt bei der alles entscheidenden Frage, wie Großbritannien den beschlossenen EU-Austritt bewerkstelligen soll. Um unangenehmen Nachfragen zu entgehen, hatte sich der Favorit bis zur BBC-Debatte den meisten Interviewnachfragen entzogen und vor allem um die TV-Studios einen weiten Bogen gemacht.

Hoffnung auf Kabinettsposten

Die Taktik scheint zu wirken. Drei ausgeschiedene Bewerberinnen, darunter Gesundheitsressortchef Matt Hancock und die frühere Ministerin Andrea Leadsom, haben sich für Johnson ausgesprochen, offenbar in der Hoffnung auf schöne Kabinettsposten, am besten das Finanzministerium. Aus dem gleichen Grund haben auch die vorläufig im Rennen verbliebenen Bewerber ihre Angriffe auf den Favoriten abgemildert.

Stattdessen richteten sie ihr Feuer auf Stewart – wohl das klarste Zeichen dafür, dass der noch zu Monatsbeginn als krasser Außenseiter gestartete Ministerkollege den Wind in den Segeln hat. Sowohl Javid wie Gove bezichtigten Stewart, dieser wolle eigentlich den Brexit verhindern. Dabei hat das Trio bei allen drei Anläufen zur Ratifizierung des ausgehandelten Austrittsvertrags brav für Mays Paket gestimmt.

Als einziger Bewerber spricht Stewart davon, der Vertrag sei nach wie vor richtig und könne von einem neuen Premierminister auch durchs Unterhaus gebracht werden. Schließlich hätten die Ergebnisse der Europawahl, bei der die Konservativen neun und Labour 14 Prozent erzielten, "einen elektrischen Schock" durch das Politik-Establishment von Westminster gejagt. Seine Konkurrenten setzen auf Neuverhandlungen mit Brüssel; Johnson droht zudem mit dem chaotischen Austritt ohne Vertrag ("No Deal") Ende Oktober und will die britischen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Brüssel verweigern. Damit macht er sich die Politik der neuen Brexit-Party des Nationalpopulisten Nigel Farage zu eigen, die bei der Europawahl mit 31,6 Prozent Platz eins belegte.

Wenigstens entbehrt das Rennen um den wichtigsten Regierungsjob des Landes nicht lustiger Momente. Rory Stewart verwickelte sich in Widersprüche in der Frage, ob er allenfalls im Kabinett eines Premierministers Johnson dienen wolle. "Nein", lautete die Antwort zunächst unverblümt, "Jein" ein wenig später, zu Wochenbeginn war’s dann doch wieder ein Nein. "Ich lerne viel dazu", entschuldigte sich der Mann, der dem Kabinett überhaupt erst seit 1. Mai angehört.

Sprachliche Gewandtheit hinzulernen muss auch Außenminister Jeremy Hunt. "Jeder ältere Mensch sollte mit Würde und Respekt sterben. Wir sollten die Partei sein, die das bewerkstelligt", teilte der frühere Gesundheitsressortchef auf Twitter mit und klang dabei gefährlich wie ein Krankenpfleger mit Giftspritze. Die Teilnehmer an der Urwahl (Durchschnittsalter: 57 Jahre) nimmt man so wohl kaum für sich ein, schließlich haben viele Konservative das himmlische Jerusalem schon fest im Blick. (Sebastian Borger, 18.6.2019)