"Über mich gibt es eigentlich nichts Besonderes zu sagen. Nur, dass ich einen sehr berühmten Großvater habe. Außerdem spreche ich fünf Sprachen fließend. Aber im Vergleich zu meinem Großvater bin ich ein 'Nichts'". So stellt sich Arnold Greissle-Schönberg, Enkel des Komponisten Arnold Schönberg, vor.  Aufgewachsen in Mödling emigrierte Arnold Jr. 1938 von Wien nach New York, nachdem sein bereits in Kalifornien lebender Großvater der Familie Affidavits beschafft hatte. Er ist mittlerweile 96 Jahre alt, wohnt mit seiner Frau Nancy in Manhattan und spricht noch immer Wienerisch mit dem dazu gehörenden typischen Charme. Sein Lieblingsgericht? Selbstgemachter Wiener Erdäpfelsalat. 

Arnolds Buch.
Foto: Stella Schuhmacher

Im Schatten des berühmten Großvaters

Arnold Jr. hat ein Buch mit dem Titel "Arnold Schönberg und sein Wiener Kreis. Erinnerungen seines Enkels" geschrieben, in dem er unter anderem seine teilweise komplizierten Erfahrungen als Enkel einer berühmten Persönlichkeit beschreibt. Felix Greissle, sein Vater, war ein Schüler Schönbergs gewesen und lernte so Schönbergs Tochter Gertrud kennen.

"Mein ganzes Leben lang bin ich der Enkel meines Großvaters gewesen. Als Erstgeborener hat man mir seinen Vornamen gegeben, was die Erwartung der Leute an mich nur steigerte. Ja, der Arnold. Was spielen Sie denn für Instrumente? Keine. Komponieren Sie etwa auch? Nein, nichts. Na, und was halten Sie vom Zwölftonsystem ihres Großvaters? Ja, pflegte ich darauf zu antworten, das ist sicher ein sehr wichtiges Ereignis gewesen für die moderne Musik; wenn ich aber ganz ehrlich sein soll, ich höre viel lieber Bach, oder Mozart. Wenn ich gegen meinen Großvater, den 'konservativen Revolutionär' rebelliert habe, dann ist das sicher auf die Erwartungen zurückzuführen, die man an mich knüpfte. Aus mir müsse jedenfalls etwas ganz Großes werden, ein Komponist der neuen Richtung oder zumindest ein Maler, oder ein bedeutender Schriftsteller. Man hat öfters versucht, in mir das große Genie zu entdecken."

Genau kann sich Arnold noch an die Stimme des Großvaters erinnern, sie klang gepresst, als ob es ihm schwer fiele, die Worte herauszubringen und er sich dementsprechend anstrengen müsse. "Er sprach in einem etwas hohen, aber dennoch durchaus männlichen Tenor, als ob ihm etwas die Kehle zuschnüre", beschreibt sie Arnold. Gerne imitiert er diese Stimme und genießt es sichtlich, eine Kostprobe zu geben.

Gertrud (Mutter von Arnold Jr.) mit ihrer Mutter Mathilde Schönberg.
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Brief von Gertrud an ihren bereits in Kalifornien lebenden Vater, 1937.
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Neue Heimat

Mit seiner Familie emigrierte Arnold 1938 im Alter von 14 Jahren von Wien über Rotterdam nach New York. Schmunzelnd erzählt er von der Atlantik-Überfahrt, die auf einem deutschen Schiff mit einer großen Hakenkreuzfahne stattfand. "Im Speisesalon war auf der Vorderwand eine riesige Hakenkreuzfahne, und wir haben uns so gesetzt, dass die Hakenkreuzfahne hinter uns war und uns der Appetit nicht verging."

In New York hatte ein Freund der Familie, der ebenfalls vor den Nazis geflohene Komponist Hanns Eisler, bereits eine Wohnung organisiert, in die die Familie nur mehr einziehen musste. Arnold hatte im Gymnasium in Wien Englisch gelernt und konnte sich schnell verständigen. Sein jüngerer Bruder weigerte sich allerdings, Englisch zu sprechen und sagte immer "Wenn sie mit mir reden wollen, sollen sie deutsch reden." Sehr zum Kummer seiner Eltern und seines Bruders.

Arnolds Reisepass.
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Passverlängerung Generalkonsulat New York.
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"Sind Sie net die Lehrerin von meiner Tochter?"

Wie so viele deutschsprachige Einwanderer ließen sich die Greissles an der Upper West Side in Manhattan nieder und überraschende Begegnungen mit alten Bekannten aus Wien standen auf der Tagesordnung. In seinem Buch beschreibt Arnold die Atmosphäre damals mit der folgenden Anekdote:

"So dicht war die Emigranten Bevölkerung in diesem Stadtteil geworden, dass man stellenweise weit mehr Deutsch zu hören bekam als Englisch. Da gab es eine Geschichte, der zufolge man im Jahr 1939 den Broadway umtaufen wollte. Er sollte von nun an nicht mehr Broadway heißen, sondern Cincinnati Avenue. Das kling so etwa wie Sinzinetti. Ja, aber warum denn gerade Cincinnati Avenue, musste man natürlich fragen. Ja, das sei darauf zurückzuführen, dass man, wenn man den Broadway entlangspazierte, immer wieder hörte: 'Sind Sie net die Frau Kohn aus Wien?', 'Sind Sie net die Lehrerin von meiner Tochter?' ... Wer in der damaligen Zeit kein Wort Englisch beherrschte, konnte sich ohne jede Schwierigkeit und in fast allen Situationen mit Deutsch durchschlagen. Man konnte in jedem Geschäft mit mindestens einem Angestellten, für gewöhnlich aber mit mehreren, deutsch sprechen. Es gab zwei deutschsprachige Radiostationen und zwei deutsche Zeitungen."

Einwanderer waren als "enemy aliens" registriert, mussten den entsprechenden Lichtbildausweis stets bei sich tragen und sich in regelmäßigen Abständen bei den Behörden melden. "Denn wenn wir auch vor den Nazis aus Österreich geflohen waren, für die amerikanische Öffentlichkeit waren wir reichsdeutsche Staatsbürger. Auf dem Deckblatt meines Reisepasses und in einem ganzen Dutzend Stempel des deutschen Generalkonsulats in New York war das verhasste Hakenkreuz abgebildet, sogar auf meinem Passbild. Ich besitze heute noch den Nazi-Pass sowie den Enemy-alien-Ausweis mit dem Bild eines ernsten, blassen Halbwüchsigen, des feindlichen Ausländers, der da nicht weiß, was man eigentlich von ihm will."

Arnold Greissle.
Foto: Stella Schuhmacher
Familie Greissle im April 1943. Arnold, in Uniform, ist in New York auf Urlaub.
Foto: Stella Schuhmacher

Rekrutierung in die amerikanische Armee

1942 wurde Arnold 19 Jahre alt und man berief ihn in die amerikanische Armee ein. Ein Gespräch mit einem Offizier über Arnolds Zukunft in den amerikanischen Streitkräften veranschaulicht die Komplexität seiner Situation:

 "'Private Greissle', sagte er mir in wichtigem Ton, 'ich will Ihnen eine Anzahl von Fragen stellen.' Das Wort 'Greissle' klang dabei wie 'Grizzly', und musste jeden, der es hörte, an die gefährlichen Bären im wilden Westen erinnern. 'Ich erwarte mir heute nur eines von Ihnen, nämlich dass Sie mir wahrheitsgetreu auf alles antworten, was ich Sie nun fragen werde ... Du hast drüben in Europa Freunde, zwei Cousins und mindestens zwei Onkel, die in der deutschen Armee dienstpflichtig sind. Wenn du jetzt mit der amerikanischen Armee in Europa kämpfst, so liegt es im Bereich der Möglichkeit, dass du eines Tages mit dem Gewehr in der Hand vor einem feindlichen Soldaten stehst und in diesem deinen Onkel erkennst oder einen Freund. Was würdest du tun? Würdest du ihn erschießen? Würdest du Bedenken haben? Könntest du deine Pflicht als amerikanischer Soldat erfüllen?' Ich antwortete darauf... Wenn ich jemanden erkennen würde und er wäre ein begeisterter Nazi gewesen, dann wäre es kein Problem für mich, gut zu zielen und abzudrücken. Wenn es aber ein Verwandter wäre oder ein guter Freund, dann würde ich mich zu erkennen geben und versuchen, ihn gefangen zu nehmen. Auf keinen Fall aber würde ich mich gefangen nehmen lassen."

Glücklicherweise wurde Arnold nie vor eine solche Entscheidung gestellt, sondern diente als Übersetzer und Sanitäter, sowohl in Nordafrika als auch in Italien. Seine erste Frau lernte er in Neapel während des Kriegs kennen und hatte zwei Söhne und eine Tochter mit ihr. Nach seiner Scheidung lernte er Nancy, eine Amerikanerin mit osteuropäischen Wurzeln, kennen, über die er sagt: "Dann habe ich diese wunderbare Frau kennengelernt, meine große Liebe. Seit über 30 Jahren sind wir verheiratet, beinahe 40. Es war bereits zu spät, um Kinder zu kriegen." Die beiden sind unzertrennlich und Nancy ist sichtlich stolz auf die außergewöhnlichen Sprachkünste ihres Mannes.

Nancy und Arnold.
Stella Schuhmacher

Stammtisch

Nach dem Krieg war Arnold einige Male in Österreich, besuchte das Mödling seiner Kindheit und Salzburg, wo er noch Familienangehörige hat. Seinen wichtigsten Bezugspunkt zu Österreich hat er allerdings im Stammtisch gefunden, bei dem sich österreichische und deutsche Holocaust-Überlebende seit 1943 in New York wöchentlich zusammenfinden. Es wird Deutsch gesprochen, man redet sich beim Vornamen an und duzt sich. Die Teilnehmer diskutieren über Politik und Kultur in der alten und neuen Welt und genießen ein gemeinsames Abendessen.

Arnold sagt darüber: "Der Stammtisch ist eine Verbindung mit der Heimat. Wir sprechen nur Deutsch, Wir haben alle gewisse Dinge gemeinsam. Wir sind Flüchtlinge. Es ist ein Stück Heimat, die Muttersprache ist das, was uns hinbringt. Wir reden über alles."

Bereits seit mehreren Jahrzehnten steigen Arnold und Nancy mittwochs ins Taxi, um beim Stammtisch einen gemütlichen Abend mit österreichischen und deutschen Freunden zu verbringen. Auch ich werde sie bald wieder dort treffen. (Stella Schuhmacher, 5.7.2019)

Demnächst im Blog: Marion und Trudy, der harte Kern des Stammtisches.

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