Das Phantom ist durchaus bekannt, aber doch kaum zu fassen. In der breiten Bevölkerung gilt Autismus oft als seltsame psychische Krankheit, die eigenbrötlerische Menschen mit phänomenalem Gedächtnis oder anderen Einzelbegabungen hervorbringt. Und Zwangsneurosen haben sie natürlich auch. Die Realität sieht etwas komplexer aus. Fachleute haben längst erkannt, dass Autismus kein eindeutiges Krankheitsbild ergibt. Stattdessen fasst man die vielfältigen Ausprägungen lieber unter dem Begriff "Autismus-Spektrum-Störungen", englisch abgekürzt ASD, zusammen. "Es ist eine Gruppe sehr diverser und heterogener Störungen", wie die Neurobiologin Gaia Novarino vom IST Austria in Maria Gugging betont. Die ersten Symptome treten meistens bis zum dritten Lebensjahr auf. Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) dürfte etwa eines von 160 Kindern betroffen sein.

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Eines von 160 Kindern ist von Autismus betroffen, erste Anzeichen treten meist bis zum dritten Lebensjahr auf.
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Hinsichtlich der Ursachen tappt die Wissenschaft noch weitgehend im Dunkeln. Wahrscheinlich basieren die Störungen auf einer Kombination verschiedener Faktoren, wobei die genetische Veranlagung eine Schlüsselrolle spielen dürfte. Welche neurologischen Schaltkreise und Botenstoffe jedoch genau involviert sind, lässt sich bislang nur ansatzweise erkennen. Zu vielschichtig ist das Zusammenwirken der Gene und ihrer Produkte, vor allem im Gehirn.

100 potenzielle Risikogene

Gaia Novarino hat die Herausforderung trotzdem angenommen. Zusammen mit ihrem Forschungsteam geht sie den molekularbiologischen Grundlagen von Autismus-Spektrum-Störungen und anderen neurologischen Entwicklungsstörungen nach. "Das menschliche Erbgut umfasst rund 20.000 Gene", erklärt die Expertin. Ein paar Hundert dieser DNA-Codes stehen damit in Verbindung, und davon seien etwa 100 von besonderer Bedeutung. Potenzielle Risikogene, sozusagen.

Für die Betroffenen wird die Situation oft durch einen weiteren Aspekt verschärft. Die genannten Störungen treten häufig zusammen mit anderen Erkrankungen wie Epilepsie oder geistiger Behinderung auf, berichtet Novarino. Wissenschaftern aber können solche Assoziationen wertvolle Hinweise für die Ursachenforschung liefern. Was gemeinsam vorkommt, hat womöglich auch gemeinsame Wurzeln, so die Überlegung. Einige wenige Schaltstellen könnten bei Beeinträchtigung eine ganze Reihe unterschiedlicher Symptome hervorrufen. Damit ließe sich das physiologische Puzzle zumindest teilweise lösen.

Schlüsselgen

SETD5 ist offenbar ein solches Schlüsselgen. Bisherigen Studien zufolge führen Mutationen in dieser Erbgutsequenz zu Intelligenzminderung und auch zu Autismus (vgl. u. a. European Journal of Human Genetics, Bd. 23). Mediziner sprechen inzwischen vom SETD5-Syndrom. Die Störungen setzen bereits in der Embryonalentwicklung ein, nicht selten kommt es dabei auch zu Verformungen im Gesichtsaufbau und gehemmtem Wachstum. Gaia Novarino und ihren Kollegen ist es gelungen, die Auswirkungen von SETD5-Defekten genauer nachzuvollziehen. In Kooperation mit Forschern des European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg führten die IST-Austria-Experten eine Reihe von Untersuchungen an genetisch modifizierten Mäusen durch. Die Nager verfügten jeweils über eine geschädigte und eine intakte Kopie des besagten Gens. Tiere mit zwei mangelhaften SETD5-Sequenzen sind nicht lebensfähig und sterben bereits im Mutterleib.

Die Versuchsmäuse zeigten eine Reihe von Verhaltensauffälligkeiten. Die Weibchen waren nicht in der Lage, richtige Nester zu bauen, und beide Geschlechter schnitten bei Lerntests schlechter ab als ihre Artgenossen mit gesunden SETD5-Genen. Mutanten-Jungtiere begannen zudem im Schnitt erst vier Tage später mit der für Mäuse typischen Ultraschall-Kommunikation. Eine weitere interessante Beobachtung war der langanhaltende Schreckreflex in Reaktion auf eine potenziell unangenehme Erfahrung. Tiere mit einem SETD5-Defekt schaffen es anscheinend nur langsam, sich von einer, in diesem Fall beängstigenden, Erinnerung zu lösen. Hier sieht Gaia Novarino eine mögliche Parallele zu Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen. Die persistente Prägung könnte zu der bekannten Verhaltensstarre führen. Normalerweise wird das Gedächtnis im Hippocampus durch mehrere Botenstoffe zugunsten einer größeren Flexibilität reguliert. Dieser Mechanismus dürfte bei SETD5-Schäden nicht intakt sein.

Gehirne der Versuchsmäuse

Die Gehirne der Versuchsmäuse wurden auch molekularbiologisch analysiert. Dabei fanden die Forscher unter anderem eine Wechselwirkung zwischen Setd5, dem Produkt von SETD5, und den Proteinkomplexen Hdac3 und Paf1 (vgl. Nature Neuroscience, Bd. 21). Das Zusammenspiel hat wahrscheinlich einen steuernden Einfluss auf die Gentranskription und damit auf alle Wachstumsprozesse, was wiederum die Entwicklungsstörungen von Menschen und Tieren mit SETD5-Defekte erklären würde.

Gaia Novarino vermutet, dass bis zu ein Prozent aller Fälle auf Mutationen in SETD5 zurückzuführen sind. Bis man sämtliche Zusammenhänge klären kann, wird allerdings noch viel Zeit ins Land gehen. Dennoch sollte die Grundlagenforschung in Zukunft auch den Betroffenen selbst zugutekommen. Sind die genauen physiologischen Ursachen einer Erkrankung erst einmal bekannt, lassen sich mithilfe der Molekularbiologie möglicherweise auch neue Medikamente zur zielgenauen Behandlung entwickeln. (Kurt de Swaaf, 20.6.2019)