Çatalhöyük nach der ersten Ausgrabungsphase.
Foto: Omar hoftun

Es muss eine exotische Welt gewesen sein, in der die Menschen vor rund 10.000 Jahren im heutigen Nahen Osten ihre angestammte Lebensweise als umherziehende Jäger und Sammler erstmals hinter sich gelassen haben. Die Wildnis im fruchtbaren Halbmond war bevölkert von Gazellen, Wildschweinen, Rindern, aber auch Löwen und Leoparden. Der historische Wechsel vollzog sich freilich nicht von heute auf morgen: Am Beginn der neolithischen Revolution, die letztlich zum Ackerbau führen sollte, stand vermutlich die Haltung von Ziegen und Schafen – Herden, die von Familiengruppen den Jahreszeiten folgend durchs Land geführt wurden.

Von den ersten Versuchen, Wildpflanzen zu kultivieren, bis zur tatsächlichen Sesshaftigkeit vergingen Jahrtausende. Doch sobald die Menschen in der Region den Beginn der Ackerwirtschaft weitgehend gemeistert hatten, entstanden Niederlassungen, die man den damaligen Gesellschaften aus heutiger Sicht gar nicht zutrauen würde: Çatalhöyük beispielsweise, eine der frühesten Großsiedlungen der Menschheitsgeschichte, erwuchs vor gut 9.500 Jahren in der Konya-Ebene im südlichen Anatolien.

Der sogenannte fruchtbare Halbmond vor etwa 8.000 Jahren mit der Siedlung Çatalhöyük im Nordwesten jener Region, wo mit Landwirtschaft begonnen wurde.
Grafik: bjoertvedt (basierend auf einer karte von norman einstein) / wikimedia

Idealer Siedlungsplatz

Obwohl bis heute erst wenige Prozent des riesigen Areals, das sich über zwei Hügel erstreckt, archäologisch erfasst wurden, lassen sich aus den zahllosen Funden faszinierende Schlüsse ziehen. In der Nähe liegende Gewässer dürften den Ausschlag dafür gegeben haben, dass sich hier Menschen in der ansonsten niederschlagsarmen Konya-Ebene längerfristig angesiedelt haben. Ein reichhaltiges Nahrungsangebot in der Umgebung spielte ebenso eine wichtige Rolle. Letztlich gehen Archäologen davon aus, dass diese beiden Faktoren vor annähernd 10.000 Jahren dazu geführt haben, dass sich Menschen aus der Region nach und nach an diesem Ort versammelt haben.

Das Ergebnis war schließlich eine steinzeitliche Siedlung aus mehreren Hundert eng aneinandergesetzten Lehmziegel- oder Stampflehmhäusern mit Flachdächern, die zu ihrer Hochzeit bis zu annähernd 3.000 Menschen, manche Forscher vermuten sogar bis zu 8.000 Menschen beherbergte.

Straßen und Gassen gab es in Çatalhöyük nicht. Die Bewohner erreichten ihre Häuser über Öffnungen in den Dächern, die gleichzeitig als Rauchabzug dienten. Als regelrechte Stadt im heutigen Sinn kann Çatalhöyük wohl dennoch nicht gelten, denn Verwaltungsgebäude oder Wirtschaftszentren gab es dort anscheinend nicht. Vorratshaltung fand individuell in den einzelnen Häusern statt, der Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten der Bewohner hat sich auf den jeweiligen Dächern abgespielt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Teil der Ausgrabungen in Çatalhöyük findet unter einem schützenden Dach statt.
Foto: Reuters/Scott Haddow

Steinzeitliche urbane Probleme

Und doch zeigten sich in Çatalhöyük sehr bald schon jene urbanen Probleme, die wir auch aus heutigen Städten kennen. Zu diesem nun im Fachjournal "Pnas" veröffentlichten Ergebnis kam ein Team um Clark Spencer Larsen von der Ohio State University nach jahrelangen Ausgrabungen an der Fundstelle. "Çatalhöyük war eine der allerersten proto-urbanen Gemeinschaften der Welt, und seine Einwohner erlebten, was es bedeutet, wenn sich viele Menschen für längere Zeit an einem Ort versammeln", sagt der Archäologe.

Çatalhöyük begann um etwa 7.100 vor unserer Zeitrechnung als kleine Ansiedlung, die zunächst nur aus wenigen Lehmbauten bestand. Seine Hochblüte erfuhr der Ort zwischen 6.700 und 6.500 vor unserer Zeit, um schließlich nach einem rasanten Bevölkerungsrückgang um etwa 5.950 vor unserer Zeit gänzlich aufgegeben zu werden.

Ackerbau war hier von Beginn an ein wesentlicher Teil des Lebens. Isotopenanalysen zeigten, dass sich die Menschen vor allem von Weizen, Gerste und Roggen ernährten. Hinzu kamen zahlreiche Wildpflanzenarten. Den Proteinanteil in ihrer Nahrung kam von Schafen, Ziegen und erjagtem Wild. In der Spätphase wurden auch domestizierte Rinder gehalten, doch diese spielten im Speiseplan bis zum Schluss nur eine untergeordnete Rolle.

Video: 3D-Rekonstruktion von Çatalhöyük.
Center for Mind and Culture

Die ersten Zivilisationskrankheiten

"Pflanzenanbau und Tierhaltung gab es von Anfang an, doch mit wachsender Bevölkerung intensivierte sich auch die Landwirtschaft dramatisch", sagt Larsen. Der hohe Getreideanteil bei der Ernährung führte schnell zu typischen Zivilisationskrankheiten, darunter vor allem Karies: Zehn bis 13 Prozent aller gefundenen Zähne von Erwachsenen wiesen entsprechende Schädigungen auf.

Und ein weiterer anatomischer Wandel ging mit dem Wachstum einher. Knochenuntersuchungen zeigten, dass die Bewohner von Çatalhöyük mit zunehmender Ausdehnung der Siedlung immer mehr zu Fuß unterwegs waren. Die Forscher schließen daraus, dass die Weide- und Ackerflächen im Laufe der Zeit weiter von der "Stadt" wegrückten. "Wir glauben, dass die landwirtschaftlich ausgelaugte Umgebung und Klimaveränderungen die Bevölkerung dazu zwang, immer weitere Strecken zurückzulegen, um die Siedlung versorgen zu können", meint Larsen. "Das dürfte letztlich auch zum Niedergang von Çatalhöyük beigetragen haben."

Rekonstruktion des Inneren eines Hauses in Çatalhöyük. Neben Reliefs und eingearbeiteten Tierknochen und Stierhörnern fanden die Archäologen auch zahlreiche Wandmalereien – darunter die möglicherweise älteste bekannte kartografische Darstellung.
Foto: Panegyrics of Granovetter

Schlechte Hygienebedingungen und mehr Gewalt

Auch was Krankheiten betraf, wirkte sich die große Zahl an Menschen negativ aus. Etwa ein Drittel der freigelegten Knochen wiesen demnach Anzeichen für Infektionen auf. "Die Menschen lebten damals dicht gedrängt nebeneinander, mit Abfallgruben und Tierställen in unmittelbarer Nachbarschaft. Die schlechten Hygienebedingungen trugen wohl zur Verbreitung von Krankheiten bei", so Larsen.

Die hohe Bevölkerungsdichte dürfte wohl auch zu mehr Gewalt geführt haben. Von 93 menschlichen Schädeln zeigten 25 – also rund ein Viertel – verheilte Schädelverletzungen. Bei zwölf Personen konnten sogar mehrere derartige Spuren nachgewiesen werden. Etwa die Hälfte der Gewaltopfer waren Frauen, und die meisten Wunden befanden sich im oberen oder hinteren Schädelbereich, was darauf hindeutet, dass die Betroffenen ihren Angreifern nicht zugewandt waren. "Wir stellten in der mittleren Periode von Çatalhöyük eine signifikante Zunahme derartiger Verletzungen fest, zu einer Zeit also, da die Siedlung die höchsten Bevölkerungszahlen aufwies", sagt Larsen.

All diese Befunde zeigen zusammengenommen, dass Çatalhöyük als eine der ersten "Megasiedlungen" der Menschheitsgeschichte bereits mit all jenen Problemen zu kämpfen hatte, denen urbane Zentren bis heute gegenüberstehen, so die Wissenschafter.

Rätselhafte Bestattungen

Letztlich ist die "Steinzeit-Stadt" aber immer noch ein Mysterium, wie ein besonders eigenartiger Befund zeigt: Die Einwohner der Siedlung bestatteten die meisten ihrer Toten im eigenen Haus. Sie verbargen sie in Gruben, die sie direkt unter dem Boden ihrer Unterkünfte anlegten. Verblüffenderweise erkannten die Archäologen anhand der Zähne der Toten, dass die Beigesetzten nicht mit den Bewohnern der jeweiligen Häuser verwandt waren. "Das ist für uns immer noch ein großes Rätsel", sagt Larsen. Um die Beziehungen der Menschen, die in dieser exotischen Welt zusammenlebten, zu klären, bedürfe es daher weiterer Ausgrabungen, sagt der Archäologe. (tberg, 23.6.2019)