Boris Johnson hat die Fraktionsabstimmungen überstanden und geht nun als Favorit in die Urabstimmung über den Parteivorsitz der Tories.

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Der nächste Premierminister des Vereinigten Königreichs wird auf jeden Fall ein früherer Außenminister sein. Im fünften Auswahlverfahren der konservativen Unterhausfraktion erreichte am Donnerstagnachmittag der derzeitige Leiter des Foreign Office, Jeremy Hunt, knapp den zweiten Platz. Der 52-Jährige darf nun im Duell mit Boris Johnson, seinem Vorgänger im Außenamt, um die Gunst des Parteivolks werben. Der haushohe Favorit Johnson bedankte sich für die Unterstützung in der Fraktion: "Ich freue mich auf die Gelegenheit, dem Land meinen Brexit-Plan vorzustellen."

Im letzten Wahlgang erhielt der frühere Londoner Bürgermeister 160 Stimmen und damit 51 Prozent. Hunt konnte 77 Stimmen (24 Prozent der Fraktion) hinter sich bringen und Umweltminister Michael Gove mit 75 Stimmen auf den dritten Platz verweisen. Dem Parteistatut zufolge entscheiden nun die rund 160.000 Mitglieder der Tories über den neuen Vorsitzenden, der nach britischer Gepflogenheit automatisch auch Premierminister wird. Das Ergebnis wird in einem Monat erwartet.

May verlor Europawahl

Zu Ende gegangen ist damit eine wochenlange Nabelschau der Regierungsfraktion, nachdem die glücklose Regierungschefin Theresa May nach der verheerend verlorenen Europawahl (Stimmenanteil: 9,2 Prozent) ihren Rückzug angekündigt hatte. Vom ersten Wahlgang an lag Johnson uneinholbar an der Spitze, Ergebnis einer wohlgeölten Maschinerie, die den Kandidaten so lang wie möglich von allen kritischen Interviews fernhielt und stattdessen mit möglichst vielen Fraktionskollegen zusammenbrachte.

Zwei Kandidaten für die May-Nachfolge.
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Im Parlament von Westminster machten seit Tagen Gerüchte die Runde, wonach Johnson sich Hunt als Gegner in der Endausscheidung gewünscht und deshalb manche Anhänger zur taktischen Stimmabgabe animiert hatte. Der frühere Gesundheitsminister war im EU-Referendumskampf 2016 für den Verbleib in der EU eingetreten und ist den zutiefst EU-skeptischen Parteimitgliedern deshalb suspekt. Den vermeintlichen Makel versuchte der seit einem Jahr als Außenminister amtierende frühere PR-Mann auszugleichen, indem er auf dem Parteitag die EU mit der früheren Sowjetunion verglich und damit bei mittel- und osteuropäischen Partnern Empörung hervorrief.

Johnsons Nazivergleich

Johnson hat in seiner Zeit als Brüssel-Korrespondent eine Vielzahl lügenhafter Artikel über die dortige Bürokratie verfasst. Im Referendumskampf verglich er die EU mit Nazi-Deutschland. Bei der alles entscheidenden Frage, wie Großbritannien den beschlossenen Brexit bewerkstelligen soll, geht es zwischen den Kandidaten nur um Nuancen. Beide erhoffen sich Neuverhandlungen mit der EU, insbesondere über die innerirische Grenze. Das klare Nein der verbleibenden 27 EU-Mitglieder bekräftigte am Donnerstag der niederländische Premier Mark Rutte gegenüber der BBC: Eine Änderung des Austrittsvertrags komme nicht infrage.

Im Johnson-Lager herrschte Erleichterung darüber, dass der 55-Jährige nicht ins Duell mit Umweltminister Gove muss. Dieser kann zu Recht von sich behaupten, dass seine EU-Gegnerschaft deutlich tiefere Wurzeln hat als Johnsons. Gove war es auch, der im Sommer 2016 zunächst als Johnsons Wahlkampfhelfer agierte, als es um die Nachfolge des zurückgetretenen Premierminister David Cameron ging.

Schottische Intrigen

Kurz vor Anmeldeschluss bezeichnete er den Brexit-Mitstreiter als "charakterlich ungeeignet" für das Amt des Regierungschefs und kündigte an, selbst zu kandidieren. Der gedemütigte Johnson zog seine Bewerbung zurück. Vor der Intrigenfähigkeit des gebürtigen Schotten hatten Johnsons Anhänger auch diesmal Angst: "Gove wird versuchen, Boris zu zerstören", lautete die Befürchtung.

In der bisher einzigen TV-Debatte, an der diese Woche noch fünf Bewerber teilnahmen, konzentrierte der Umweltminister sein Feuer aber auf Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Hingegen nahm Entwicklungshilfeminister Rory Stewart den Favoriten Johnson aufs Korn und wies auf die vielfältigen Widersprüche in dessen Aussagen hin. Erstmals im gleißenden Scheinwerferlicht erwies sich der sonst souverän mit Witzen um sich werfende Politiker tatsächlich als verwundbar.

So mochte Johnson sein zu Monatsbeginn geäußertes Versprechen eines notfalls auch chaotischen Brexits ("No Deal") am 31. Oktober nicht mehr wiederholen. Auch war nicht mehr von der Verweigerung britischer Zahlungsverpflichtungen gegenüber der EU die Rede – eine Forderung, mit der die Brexit-Party des Nationalpopulisten Nigel Farage bei der Europawahl 31,6 Prozent und Platz eins erzielt hatte. Bei der unpopulären Forderung nach einer Steuersenkung für Besserverdienende blieb Johnson zwar, ergänzte sie aber durch den Wunsch nach einer Senkung der Pensionsversicherungsbeiträge für Geringverdiener. (Sebastian Borger aus London, 20.6.2019)