Bild nicht mehr verfügbar.

Markus Nierth musste erkennen, dass auch Zuhören an Grenzen stößt.

Foto: dpa / Jan Woitas

Als ehrenamtlicher, parteiloser Bürgermeister von Tröglitz setzte sich Markus Nierth 2015 in der 3.000-Einwohner-Gemeinde in Sachsen-Anhalt für die Aufnahme von Flüchtlingen ein. Als eine von Rechtsextremisten geplante Demo bis vor sein Privathaus hätte führen sollen und die Behörden die Route nicht abänderten, trat Nierth zurück.

STANDARD: Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde ermordet, weil er sich für Flüchtlinge einsetzte. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie davon hörten?

Markus Nierth: Das geht mir wahnsinnig an die Nieren, die Gefühle von damals kommen wieder hoch. Ich erinnere mich wieder an all die Morddrohungen, die ich 2015 bekommen habe. Die verdrängte Todesangst steigt wieder hoch.

STANDARD: Was waren das für Drohungen?

Nierth: Direkte Morddrohungen. Ich erhielt anonyme Schreiben. "Man sollte dich an ein Holz nageln und anzünden, dann wirst du brennen wie ein (N-Wort, Anm.), du Schande der weißen Rasse", hieß es zum Beispiel.

STANDARD: Sie hatten Todesangst?

Nierth: Selbstverständlich. Ich sorgte mich um meine Kinder, meine Frau, um mich selbst. Ich kann mitfühlen, dass heute viele Politiker schweigen und nach außen hin kühl auf Drohungen reagieren. Es heißt, man solle den Rechten keine Bestätigung geben, indem man Angst zeige. Aber diese rechten Hetzer sind so krank im Kopf, dass Gefühle zu zeigen nichts an ihren Absichten ändert.

STANDARD: Seit dem Tod Lübckes exponieren Sie sich wieder. Der aktuelle Fall zeigt, dass rechte Gewalttäter auch mehr als drei Jahre nach einem Ereignis zur Tat schreiten. Haben Sie nicht Angst, dass Ihnen dasselbe widerfährt?

Nierth: Natürlich. Die Rechten haben im Fall Lübcke das Signal ausgesendet: Wir können euch jederzeit kriegen, auch Jahre später.

STANDARD: Der Fall Lübcke ist eine Zäsur für das Land. Erstmals wurde ein Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner politischen Haltung aus rechtsextremen Motiven ermordet. Wie konnte es passieren, dass diese Hemmschwelle so gesunken ist?

Nierth: Sie ist gefallen, weil sich die Rechten ermutigt fühlen dürfen von dem seit Jahren vorangetriebenen Hass von Gruppierungen wie Pegida, von Rechts-außen-Politikern der AfD und anonymen Hasskommentaren im Internet. Der rechte Arm der AfD, Leute wie Björn Höcke (Vorsitzender der AfD Thüringen, Anm.), die Hass säen, sind mitverantwortlich dafür, dass es nun zu diesem schrecklichen Mord gekommen ist. Die Verrohung der Sprache hat die Tat begünstigt. Die Verrohung der Sprache ist eine Folge der Verrohung der Herzen.

STANDARD: Wie sollen die Menschen, die Hass fühlen, zurückgeholt werden?

Nierth: Es braucht eine neue Kultur des Zuhörens. Aber als Theologe musste ich lernen, dass das typisch protestantische Immer-verstehen- und -abholen-Wollen an bestimmten Punkten falsch ist. Wer sich zum Destruktiven entschlossen hat, wer Hass sät, dem gegenüber muss ich klare Kante zeigen. Mit solchen Leute sollten wir nicht reden.

STANDARD: Wie leben Sie heute?

Nierth: Wir sind seit den Vorfällen von 2015 sozial isoliert, uns fehlt die Luft zum Atmen. Wir haben uns innerlich verabschiedet hier als Menschen. In der Region kuschen sehr viele Leute vor den Rechten, uns hingegen haben nur wenige unterstützt. Diese Entwicklung ist leider im Osten weit vorangeschritten. Offene Menschen, Kreative, Künstler, Intellektuelle, einige sind schon aus ostdeutschen Orten weggezogen.

STANDARD: Bereuen Sie Ihr damaliges Engagement gegen rechts und für Flüchtlinge manchmal?

Nierth: Ich würde wohl wieder so handeln. Immer treibt mich die Frage um: Wie konnte die Hitler-Diktatur so geschehen? Ich möchte mich nicht von meinen Enkeln einmal fragen lassen müssen, warum ich damals nicht alles Menschenmögliche getan habe. Jeder trägt Verantwortung dafür, sich gegen Menschenhass zu stellen. Das ist meine Verpflichtung als Mensch und als Christ – auch wenn mir das Gleiche widerfahren kann wie Walter Lübcke. (Christoph Reichmuth, 21.6.2019)