Pubs and Pints: Boris Johnson gibt sich gern leutselig. Seiner argumentativen Konsistenz in Sachfragen nützt das nicht unbedingt.

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Boris Johnson ist gerade dabei, Britanniens Premierminister zu werden. Zwar nicht in einer regulären Parlamentswahl gewählt, sondern durch das Scheitern der jetzigen Regierungschefin und ein eigenartiges innerparteiliches Gerangel an die Spitze der Konservativen Partei gehievt, was ihn zum Bewohner von 10 Downing Street in London macht.

Johnson ist bisher aufgefallen durch seine Arbeit als brillanter Journalist, als Londoner Bürgermeister, als Weiberheld und Produzent unehelicher Kinder (er selbst weigert sich zu sagen, wie vieler) und als Urheber der frechsten Lüge, die je ein Referendum in eine Richtung geneigt hat. Seine Behauptung, das Vereinigte Königreich schicke jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel, war ebenso gelogen wie die Ankündigung, mit diesem Geld könnte man jede Woche ein Krankenhaus bauen. Der Mann hat weder eine Ahnung von den tatsächlichen britischen Beiträgen an die EU noch von den Zahlungen, die an das Königreich zurückfließen, noch von den Kosten, die der Bau eines modernen Krankenhauses verursacht.

Konservative Herzen

Trotz all seiner Mängel fliegen ihm die Herzen der Konservativen zu und wohl auch die einer Mehrheit der Briten. Weshalb, drängt sich die Frage auf, weshalb laufen die Leute einem Typen nach, dessen charakterliche Schwächen offenliegen, der schon kurz vor dem EU-Referendum bewiesen hat, dass es ihm nicht um die EU oder das Wohl der Briten geht, sondern ausschließlich um sich selbst? Damals hat Johnson nämlich zwei Kommentare verfasst, einen für den Verbleib in der EU und einen für den Austritt. Und erst in letzter Minute entschied er, dass er bessere Chancen auf das Amt des Premierministers hat, wenn David Cameron über ein gescheitertes Referendum stolpert und stürzt.

Mehrheiten für charakterlich bedenkliche Politiker gibt es ja nicht nur in Großbritannien, sondern vermutlich fast überall. Bei den Briten freilich stechen sie besonders heraus, weil sich dorthin während des Ringens um einen Austrittsvertrag besonders viele Augen wenden. Man nehme nur den "Mister Brexit", Nigel Farage. Der Mann ist unfassbar verlogen und korrupt und wird dennoch immer wieder ins Europäische Parlament gewählt. Und neben Boris Johnson geht die Entscheidung der Briten im Referendum von 2016 vor allem auch auf sein Konto. Erstaunlich dabei: Für das eigene Parlament in Westminster war Farage den Briten nie gut genug, wohl aber für die EU. Jeder seiner Versuche, einen Sitz im Unterhaus zu erringen, ist gescheitert – fünf Mal. Man könnte daraus schließen, dass die britischen Wähler in seinem Fall tatsächlich politischen Ausschuss nach Brüssel und Straßburg geschickt haben.

Dabei ist der Mann mittlerweile bekannt dafür, dass er im EU-Parlament zu den faulsten Abgeordneten zählt, öffentliches Geld zur Bezahlung von Parlamentsmitarbeitern für Parteizwecke missbrauchte und an Sitzungen in Ausschüssen, für die er sich engagieren sollte, grundsätzlich nicht teilgenommen hat. Farage, der immer wieder die Verschwendung von Geld in der EU anprangert, lässt sich von einem britischen Milliardär aushalten. Arron Banks, ein besonders EU-feindlicher Brite, gab nach dem Referendum eine halbe Million Pfund aus, um Farages Leben angenehm zu gestalten. Er finanzierte ein privates Büro, einen Mitarbeiter, etliche USA-Reisen, damit Farage seinen politischen Helden, Donald Trump, besuchen konnte. US-Journalisten werden bezahlt, damit sie Farage interviewen. So kassierte Tucker Carlson, Kommentator bei Trumps Lieblingssender Fox News, 11.300 Pfund für ein Interview mit Farage.

Lügen und schwindeln

All das scheint den Wählern Nigel Farages nicht wichtig. Sie schickten ihn wiederholt nach Brüssel, damit er dort das kritisieren kann, was er selbst auch tut: lügen, schwindeln und Geld verschwenden.

Wie ähnlich der Fall des US-Präsidenten liegt, ist hinreichend bekannt. Erstaunlich vor allem, dass selbst sich nach seiner widerlichen Prahlerei, er könne jeder Frau zwischen die Beine greifen, ausgerechnet besonders konservative Frauen fanden, die ihn verteidigten. Nicht nur seine Partei, sondern auch seine Wähler honorieren jeden Verstoß gegen den Anstand mit johlender Begeisterung. Selbst seine Erklärung, er würde jedes Angebot einer fremden Macht annehmen, seine politischen Gegner mit Schmutz zu bewerfen, findet eher Zustimmung als Kritik. Den Gipfel der Dummheit erreichten zwei ältere Herren, die stolz ein T-Shirt mit folgendem Text tragen: "I'd rather be a Russian than Democrat." Man erinnert sich an die Geschichten aus einer Zeit, als solch ein Bekenntnis als "unamerikanisches Verhalten" kritisiert worden wäre – von Leuten, die heute Trump unterstützen und ihm im Kongress die Stange halten.

Die seltsame Liebe zu Russland haben einige Politiker gemeinsam, die sich ansonsten ganz nationalistisch geben, mit dem Spruch "... zuerst", gleichgültig ob das Amerika, Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Österreich ist. Sie alle schauen bewundernd auf zu einem Mann, der die Opposition in seinem Land knebelt, seine Freunderln mit einträglichen Posten versorgt und das politische System ganz auf die eigene Person zugeschnitten hat. Darin mag so etwas wie ein Hinweis dafür liegen, wovon diese Politiker träumen: von der Perpetuierung der eigenen Machtposition und der nachhaltigen Ausschaltung jeglicher Opposition.

Strache und die "lunatics"

Vielleicht liegt darin aber auch die Erklärung dafür, weshalb diese Politiker so viele Anhänger finden, die ihnen alles verzeihen. Die Sehnsucht nach dem starken Typen, der allen sagt, wo es langgeht, der den Bürger der Sorge enthebt, sich bei Wahlen mit Programmen auseinanderzusetzen, weil er ihnen einfache Lösungen für Probleme präsentiert, die es entweder gar nicht gibt (den "Bevölkerungsaustausch", der nur in der Fantasie von Orbán, Strache und Co existiert) oder die sowieso keiner lösen kann, wie die Misere des britischen Gesundheitsdienstes NHS und seiner Krankenhäuser.

Wie sonst wäre verständlich, dass zwar jeder Österreicher und jede Österreicherin wissen dürfte, wie H.-C. Strache sich selbst aus der Regierung hinauskatapultiert hat, ihm aber doch mehr als 40.000 Wähler bei der EU-Wahl eine Vorzugsstimme geschenkt und diese Stimme damit verschwendet haben? Dahinter steckt wohl die Neigung, alles für eine böse Intrige zu halten, was "ihrem" H.-C. schadet. Solche Verehrung, solch bedingungslose Gefolgschaft bekommt man nur von Leuten, die das eigene Denken zugunsten einer Führerverehrung aufgegeben haben.

Ein Grund zur Sorge? Kaum. Denn die gut 40.000 Vorzugsstimmen für Strache stellen nur etwas mehr als ein Prozent all jener, die zur Europawahl ihre Stimme abgegeben haben. Das ist ein "lunatic fringe", den die Demokratie in Österreich wohl aushalten wird. (Viktor Hermann, 20.6.2019)