Vermutlich ist es Ihnen auch schon einmal passiert: Die Geldbörse ist weg, und es ist nicht ganz klar, ob sie liegengelassen oder gestohlen wurde. Wurde sie verloren, lebt die Hoffnung, dass sich der Finder melden oder das Portemonnaie bei einer Fundstelle abgeben möge.

Wie groß aber ist statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass die verlorene Geldbörse auf einen ehrlichen Finder stößt? Und wie beeinflusst die Menge des darin enthaltenen Geldes, ob das Portemonnaie und sein Inhalt retourniert werden?

Wissenschaftlich fallen diese beiden Fragen in den Bereich der Ethik und der Verhaltensökonomie, zwei boomende Forschungsbereiche. Schließlich geht es dabei um Fragen der Ehrlichkeit, die eine der Fundamente unserer Gesellschaft darstellt und ohne die unsere Gesellschaft schlecht funktioniert. Andererseits steht die Ehrlichkeit hier im Konflikt mit dem materiellen Gewinn, der ja die Handlungsmaxime des Homo oeconomicus ist.

Ehrlichkeit oder Eigennutz?

Was aber setzt sich in diesem Widerstreit zwischen Ehrlichkeit und Eigennutz durch? Ein US-schweizerisches Forscherquartett um Alain Cohn (University of Michigan in Ann Arbor) hat die höchst aufwendige Probe aufs Exempel gemacht und stellte in 355 Metropolen in 40 Ländern der Erde Menschen auf die Probe.

Jemand gab vor, eine Brieftasche (halb transparent aus Plastik) gefunden zu haben, sei in Eile und übergab sie einer fremden Person an einem offiziellen Ort wie einer Information oder Rezeption, einem Bank- oder Postschalter, einer Polizeiwache oder einer anderen öffentlichen Anlaufstelle.

Die Standardbrieftasche samt Inhalt (hier für die US-amerikanischen Finder).
Foto: Christian Zünd

Die semitransparenten Brieftaschen aus Kunststoff waren mit einer Visitenkarte, einer Einkaufsliste, einem Schlüssel und – zufällig verteilt – mit einem mittleren oder einem hohen Geldbetrag bestückt. Die Geldsumme war in Landeswährung und dem regionalen Lebensstandard angepasst und betrug für die USA 13,45 bzw. 94,15 US-Dollar. Viele Geldbörsen enthielten aber gar kein Geld.

Experten lagen falsch

Was mit diesen insgesamt 17.303 Brieftaschen passierte, überraschte – nicht zuletzt auch jene Experten, die vorab nach ihrer Einschätzung befragt wurden, wie sich die Menschen verhalten würden. Denn tatsächlich stieg die Bereitschaft, sich ehrlich zu verhalten, mit der Höhe des Geldbetrags, wie die Forscher im Fachblatt "Science" schreiben.

Im Schnitt nahm die Quote der Retournierungen von 40 Prozent bei Börsen ohne Geld auf 51 Prozent zu, wenn Geld in Höhe von etwa 13 US-Dollar enthalten war. Die Rückgabequoten steigerten sich in Ländern wie Dänemark, das an der Ehrlichkeitsspitze aller Länder steht, von 68 Prozent ohne Geld auf 82 Prozent mit Geld im Portemonnaie. Danach folgen Schweden, Neuseeland, Tschechien und Australien. In China, das am Ende der Rangliste der ehrlichen Finder steht, kam es immerhin noch zu einer Steigerung von sieben auf 22 Prozent.

Erklärung für kulturelle Unterschiede

Für den aus Österreich stammenden Verhaltensökonomen Simon Gächter (Uni Nottingham), der nicht an der Studie beteiligt war, aber ähnliche Experimente in kleinerem Maßstab durchführte, kamen die Ergebnisse nicht überraschend. Er wunderte sich eher, dass Experten – anscheinend immer noch vom überholten Modell des eigennützigen Homo oeconomicus überzeugt – bei ihrer Einschätzung so falsch lagen.

Sehr zurückhaltend äußern sich die Studienautoren über die erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern. Simon Gächter verweist in dem Zusammenhang auf seine eigene Studie, die 2016 in "Nature" erschienen ist: Dabei zeigte sich, dass der Grad der Ehrlichkeit vom Ausmaß an typischen "Regelverletzungen" in einer Gesellschaft (wie Korruption oder Steuerhinterziehung) beeinflusst wird: je weniger Regelverletzungen, desto ehrlicher. (tasch, 20.6.2019)