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Mit hauchdünner Mehrheit hatte der AKP-Herausforderer Imamoglu die Wahl gewonnen. Der Urnengang wurde aber für ungültig erklärt.

Foto: AP / Lefteris Pitarakis

In der Türkei gehört es dazu, dass jeder Politiker von Rang und Namen seinen eigenen Song hat. Die Hymne von Präsident Tayyip Erdoğan ähnelt theatralischer Filmmusik, zu der ein Held auf einem Pferd geritten kommen könnte, um in letzter Minute sein Land zu retten. Das Lied von Ekrem Imamoglu dagegen klingt fröhlicher, frischer, hoffnungsvoller.

Eine Kakofonie aus den Liedern der beiden Bürgermeisterkandidaten von Istanbul, Ekrem Imamoglu und Binali Yildirim, kann man derzeit oft am Fährhafen von Kadikoy hören. Die Fläche vor der Anlegestelle im asiatischen Teil der Stadt nutzen Parteien gern, um Wahlkampf zu machen. Optisch und akustisch überpräsent buhlen dort beide um die Aufmerksamkeit der Reisenden. Überall sichtbar ist auch Imamoglus Slogan. Egal, wie die Wahl ausgehen wird – unvergesslich bleiben wird der Spruch "Her sey güzel olacak" – "Alles wird gut werden".

Man könnte all das als Galgenhumor oder zumindest als augenzwinkernden Euphemismus deuten. Denn wer die letzten Jahre in der Türkei politisch einigermaßen verfolgt hat, der weiß: So schnell wird überhaupt nichts gut werden.

Da ist zunächst einmal die Ausgangslage dieser Wahl: Imamoglu hat die Bürgermeisterwahlen am 31. März mit einem knappen Vorsprung gewonnen. Nach der Neuauszählung einiger Bezirke ist sein Vorsprung auf 13.000 Stimmen geschrumpft – bei einer Stadt mit 16 Millionen Einwohnern. Einige Wochen später erklärte die Oberste Wahlkommission der Türkei die Wahlen wegen "Unregelmäßigkeiten" für ungültig. Dass dies auf politischen Druck der AKP geschah, ist so ziemlich jedem klar.

Seitdem kämpft Imamoglu dauerlächelnd gegen einen schier übermächtigen Gegner. Mit seiner randlosen Brille und stets akkuratem Anzug wirkt der 48-Jährige eher wie jemand, bei dem man seinen ersten Bausparvertrag abschließt.

Gegen die Verschwendung

Wenig an seiner Biografie ist außergewöhnlich. Er studierte Betriebswirtschaftslehre in Istanbul, stieg in die Baufirma seines Vaters ein. Er wurde zuerst Mitglied einer nationalistischen Partei. Angeblich soll ihm seine Frau dann vor die Wahl gestellt haben: Wenn er in die Politik gehe, dann nur für die kemalistisch-säkulare CHP oder gar nicht. Imamoglu wurde 2008 Mitglied der größten türkischen Oppositionspartei und 2014 Bürgermeister von Beylikdüzü, ein Bezirk weit im Westen Istanbuls.

Im Wahlkampf prangert er die Verschwendung der städtischen Gelder an und verspricht all dies zu ändern. Istanbul ist für rund 40 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes verantwortlich. Es geht auch um ein Budget von 24 Milliarden Lira, rund 3,7 Milliarden Euro. Auch deshalb klammert sich die AKP an die Stadt. In den kurzen Wochen von Imamoglus Amtszeit kam bereits einiges ans Licht: Zur Stadt gehören 28 Unternehmen, die die Aufträge wieder an private Subunternehmen weitergeben – mit fairer Ausschreibung hat das meist nichts zu tun. Zudem hat die Stadtverwaltung jahrelang gemeinnützige Stiftungen unterstützt, die der Erdogan-Familie nahestehen. Als Imamoglu bei CNN Türk die Verschwendung unter der AKP-Regierung anprangerte, beendete der Sender kurzerhand die Übertragung.

Historische TV-Debatte

Am vergangenen Sonntag aber traf Imamoglu bei einer TV-Debatte auf seinen Gegner Yildirim. Es war das erste Duell dieser Art seit 17 Jahren. Sachlich war die Diskussion zwar eher enttäuschend, doch Imamoglu wirkte agil und souverän. Während Yildirim meist finster brummelte, präsentierte Imamoglu lächelnd Zahlen und Fakten. Bei vielen Istanbulern kommt genau das gut an. Junge Leute sind genervt vom immer selben Haudrauf-Typus, der sonst den türkischen Politikbetrieb dominiert.

Nicht zuletzt verfügt Imamoglu über ein professionelles PR-Team. So war schon nach wenigen Tagen, nachdem bekannt geworden war, dass er für die Bürgermeisterwahl kandidiert, seine Biografie in Buchform erhältlich – und natürlich wurde sein Song komponiert. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 22.6.2019)