Welche Varianten werden über mehr als 50 Prozent verfügen? Das wird man erst nach der Wahl am 29. September wissen.

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Geht für Sebastian Kurz alles gut, wird der Ex-Kanzler nach der Wahl jedenfalls mehrere Optionen haben.

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Die FPÖ von Norbert Hofer hat schon Interesse am Weiterregieren deponiert. Wäre sie auch dafür zu haben, nur ein paar Projekte, aber keine Ministerposten zu bekommen?

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Nach Brüssel geht Werner Kogler nun doch nicht. Die Frage ist nun, ob er das gute EU-Ergebnis auch auf Österreich umlegen und die Grünen dann als potenziellen Mehrheitsbeschaffer ins Spiel bringen kann.

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Die Neos von Beate Meinl-Reisinger würden gerne die Politik mitgestalten – nur von der Regierungsbank aus?

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SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hätte wohl das geringste Interesse, eine Minderheitsregierung von Sebastian Kurz zu dulden. Die Frage ist, ob die Gewerkschaft das auch so sieht, wenn es darum geht, Sozialpartnermaterien umzusetzen.

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Für Sebastian Kurz läuft es derzeit nicht schlecht. Alle Umfragen bescheinigen dem Ex-Kanzler gute Chancen, bei der Nationalratswahl klare Nummer eins zu werden. In den meisten Erhebungen ist die ÖVP näher an der 40- als an der 30-Prozent-Marke. Gelingt es den Türkisen tatsächlich, die Umfrage- in Wahlerfolge umzuwandeln, würde ihnen das eine komfortable Position für Verhandlungen verschaffen – und neue Optionen. Wie ÖVP-Strategen berichten, wird nun ernsthaft über eine Minderheitsregierung nach dem 29. September nachgedacht. Es gäbe also keine fixe Koalition mehr, sondern eine ÖVP-Alleinregierung, die sich im Parlament wechselnden Mehrheiten suchen würde.

In der Praxis könnte das, aus Sicht der ÖVP, in etwa so aussehen: Mit den Freiheitlichen beschließt die Volkspartei weiter die Asyl- und Integrationspolitik. Mit den Grünen eine Ökosteuerreform oder eine Klimaschutzstrategie. Mit den Neos eine Transparenzoffensive oder ein Deregulierungspaket. Falls Grüne und Neos allein nicht für eine Mehrheit reichen, wären auch Dreiervarianten denkbar. Mit der SPÖ könnten klassische Sozialpartnermaterien vereinbart werden. Kurz würde als Macher dastehen, der mit allen kann.

209 Minderheitsregierungen

Theoretisch. Denn noch sind das alles nur Gedankenspiele. Praktisch stellt sich vor allem die Frage, warum die anderen Parteien da mitspielen sollten? International sind Minderheitsregierungen jedenfalls keine Seltenheit, wie der Politikwissenschafter Wolfgang C. Müller im Gespräch mit dem STANDARD erzählt. Eine Studie im Jahr 2013 brachte folgendes Ergebnis: Von 610 Regierungen in Europa seit 1945 waren 401 Mehrheits- und 209 Minderheitsregierungen – also immerhin ein gutes Drittel. Traditionell wird vor allem in Skandinavien auf ein freies Spiel der Kräfte gesetzt (siehe Infobox).

In Österreich hat sich das Konzept bisher nicht durchgesetzt. In der Ersten Republik gab es fünf Minderheitsregierungen, allesamt schwach und von kurzer Dauer. In der Zweiten Republik regierte nur Bruno Kreisky ohne fixe Mehrheit im Nationalrat – zwischen April 1970 und Oktober 1971. Gestützt wurde Kreisky I von den Freiheitlichen, denen der spätere Langzeitkanzler ein minderheitenfreundlicheres Wahlrecht versprach.

Grundsätzlich müssen wechselnde Mehrheiten nicht mit Instabilität verbunden sein. Im Schnitt halten Minderheitsregierungen nur geringfügig kürzer als Koalitionen. Die Frage ist: Gibt es Rahmenbedingungen, unter denen sie eher zustande kommen und halten? Politologe Müller definiert folgende Eckpunkte:

  • Politische Mitte Die häufigste Konstellation ist, dass die Regierungspartei in der politischen Mitte angesiedelt ist und es sowohl links als auch rechts im politischen Spektrum Parteien gibt, die potenzielle Mehrheitsbeschaffer sind.

  • Angst Kleine Parteien beteiligen sich eher, wenn sie befürchten, in einer formellen Zoalition wegen der zu schließenden Kompromisse aufgerieben oder von den eigenen Wählern bestraft zu werden, weil sie die Chance auf Umsetzung politischer Ziele verstreichen lassen.

  • Zukunftsorientiert Die Forschung ergab auch, dass Minderheitsregierungen eher überleben, wenn zukunftsorientierte Parteien beteiligt sind, denen Inhalte wichtiger sind als Ämter.

  • Starkes Parlament Entscheidend ist vor allem ein starkes Parlament, das auf Augenhöhe mit der Regierung agiert.

Die letzten beiden Punkte sind es auch, weshalb der Vorstand des Instituts für Staatswissenschaft an der Uni Wien für ÖVP-Chef Sebastian Kurz eher schwarzsieht. "In Österreich gibt es traditionell eine große Überlegenheit der Exekutive, also der Ministerien, gegenüber dem Parlament." Folglich besteht ein massiver Anreiz, nicht einer Partei alle Ministerposten zu überlassen. Müller: "Der Drang zur Macht und den damit verbundenen Ressourcen ist zu groß. Die Parteien haben ein Interesse daran, zu sagen: Entweder wir machen eine richtige Koalition, oder wir verpflichten uns zu gar nichts."

Systematische Unterschiede

Dazu kommen systemische Unterschiede. In Norwegen können Gesetzgebungsperioden gar nicht vorzeitig beendet werden. In Schweden geht das zwar, es muss dann aber zum regulären Ende der Periode wieder gewählt werden. Wenn aber Auflösung und Neuwahl nicht möglich oder sinnvoll sind, werden die Parteien eher bestrebt sein, eine Minderheitsregierung zu bilden. In Österreich fehlen solchen Hürden, die eine Abwahl einer Regierung unattraktiv machen.

Bevor SPÖ, FPÖ, Grüne oder Neos eine türkise Alleinregierung dulden, werden sie vielleicht auch noch einmal einen Blick in die Geschichtsbücher werfen. Die FPÖ bekam 1971 zwar das geforderte neue Wahlrecht. Großer Gewinner bei der anschließenden Wahl war dann aber Kreisky. Er erreichte die absolute Mehrheit. (Günther Oswald, 22.6.2019)