Wenn Bruno Kreisky etwas brummte, wusste man, woran man ist. Das ist in der SPÖ heute anders.

JAEGER ROBERT / APA / picturedes

Die Sozialdemokraten brauchen auch ein "gefühltes Programm", schreibt der Politologe Felix Butzlaff, damit ihre Wähler wissen, wo es langgeht.

In ihrem Kommentar ("Der SPÖ hilft nur die Parteispaltung") argumentiert Katharina Mittelstaedt, die SPÖ sei strukturell nicht mehr in der Lage, im Rahmen ihrer einstigen Erfolgskoalition Arbeiter und Intellektuelle noch weiter unter einem Dach zu vereinen. Zu groß seien mittlerweile die Unterschiede in Lebenslagen, als dass man sich noch als Teil einer gemeinsamen Bewegung begreifen könne. Allerdings ist dies weder eine neue noch eine Entwicklung, die auf sozialdemokratische Parteien begrenzt ist – blickt man auf Parteien, Gewerkschaften und Kirchen Europas, dann wird deutlich, dass fast alle Großorganisationen unter auseinanderdriftenden Identitäten und sozialen Verhältnissen leiden.

Einige Parteien allerdings sind in der Lage, mit diesen Herausforderungen besser umzugehen. Türkise, Grüne und Rechtspopulisten schaffen es im Gegensatz, eine Integration stiftende Erzählung zu formulieren und gesellschaftliche Koalitionen zu Wahlerfolgen zusammenzuführen. Die Krux scheint also vielmehr im Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden zu liegen und in einer politischen Erzählung, die Entwürfe liefert, wer aus welchen Gründen zur gemeinsamen Bewegung gehört und welche Gesellschaft man sich für die Zukunft wünscht.

Postmoderne Entwicklung

Das Schwinden dieser Voraussetzungen hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard bereits in den 1970er-Jahren in seiner Betrachtung der Postmoderne beschrieben. Jahrzehnte der Individualisierung und Emanzipation hätten dafür gesorgt, dass die Aussicht, narrativ eingemeindet zu werden, an sich bereits abschreckend und bevormundend wirke. Der Kulturwissenschafter Daniel Hornuff ergänzt, dass in Zeiten von Social Media die "radikale Subjektivität der vielen kleinen Erzählungen" die "richtungsweisende, übergeordnete Erzählung" abgelöst habe.

Der Facharbeiter habe mit der geringqualifizierten Reinigungskraft, dem pensionierten Postbeamten und dem befristet angestellten Archäologie-Habilitanden heutzutage nicht mehr genug gemeinsam, um durch eine politische Erzählung angesprochen und integriert zu werden. Gleichzeitig bleiben nach Hannah Arendt Erzählungen ein unverzichtbares Mittel, kollektiv Politik und Demokratie zu organisieren. Nur indem eine zukünftige Gesellschaft ausgemalt und erzählt wird, kann ein politischer Wandel greifbar werden und als demokratische Alternative Legitimation erfahren.

Die Furcht vor auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Unterschieden ist eine alte Bekannte der Sozialdemokratie: Bereits Peter Glotz als Vordenker der deutschen SPD der 1980er-Jahre wurde von der Sorge getrieben, unterschiedliche Milieus nicht mehr integrieren zu können. Noch viel früher war die Organisation des Klassenbewusstseins der Hauptfokus sozialistischer Parteien, mit der aus ganz unterschiedlichen Teilen der Arbeiterschaft eine politische Klasse geformt werden und in ein gemeinsames politisches Subjekt integriert werden sollte. Aus Benachteiligung und Verelendung allein war auch im 19. Jahrhundert keine politische Klasse entstanden, sondern diese ist organisiert und erzählt worden.

Die zeitgenössische Sozialdemokratie allerdings hat die Vorstellung auseinanderdriftender Gesellschaften bereits so stark verinnerlicht, dass sich das Bestreben, eine politische Erzählung zu formulieren, zu oft auf das Entwerfen von Wahlkampf- oder Marketingstrategien zur Zielgruppenansprache beschränkt. Dies aber verkennt Aufgabe und Voraussetzungen des politischen Erzählens.

Sinnstiftung gesucht

Erfolgreiche große Erzählungen müssen zunächst sinn- und identitätsstiftend wirken. Gemeinschaften erzählen einander ihre Vergangenheit, erklären damit ihre Gegenwart und betonen, was sich wie verändern und was bleiben soll. Zweitens müssen Erzählungen einen unscharfen und vielstimmigen Rahmen für eine Vielfalt an Erzählenden und Erzählsträngen bieten, wandlungs- und anpassungsfähig sein, sowohl über gesellschaftliche Gruppen als auch über die Zeit hinweg. Drittens aber muss eine große Erzählung kohärent sein, einen inneren Zusammenhang deutlich machen – eine gemeinsame Grundlage ist die Voraussetzung dafür, dass sie vermitteln kann, wie Dinge zusammenhängen.

Politische Erzählungen sind also keineswegs nur überzeugende Kommunikation, sondern ein Bindeglied zwischen Werten, Lebenssituation und Identität sowie dem, was daraus zu folgen hat und was dann in eine politische Strategie münden kann. Sie können aber niemals nur Marketing sein. Die Sozialdemokratie als Bewegung war in ihrer Geschichte Meisterin der Erzählung. Die Klassenkämpfe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, das Überstehen von Verfolgung unter dem Nationalsozialismus sowie die Gesellschaftsreformen der 1970er-Jahre sind Beispiele dafür, wie eine politische Erzählung den Wertekanon einer Bewegung mit einer politischen Strategie verknüpft.

Das derzeitige Verstummen einer sozialdemokratischen Erzählung hat einerseits mit ihren Regierungsbilanzen der letzten vier Jahrzehnte zu tun. Zu oft widersprachen einander Erzählung und Handlung. Andererseits aber sind die Fähigkeiten zum Erzählen strukturell geschwächt worden. Das Wissen um konkrete Lebenslagen, die solche Erzählungen aufgreifen, ist in der Partei wesentlich lückenhafter als noch vor einigen Jahrzehnten. Das Ansehen der Parteifunktionäre als Erzählproduzenten innerhalb der Parteien ist entwertet worden, und es gibt geradezu eine Verachtung gegenüber einer Erweiterung des Möglichkeitsraumes, wie beispielsweise in Deutschland die innerparteilichen Reaktionen auf Kevin Kühnerts jüngste Sozialisierungsvorschläge zeigen.

Individualisierter Zugang

Und wie fast alle Parteifamilien haben Sozialdemokraten seit den späten 1980er-Jahren den Umgang mit ihren Anhängern stärker individualisiert. Nicht mehr die soziale Gruppe wird angesprochen, sondern der Einzelne. Letzteres aber hat einen großen Einfluss auf die Fähigkeit einer Partei, möglichst viele Menschen hinter einer großen Erzählung zu sammeln.

Eine künftige sozialdemokratische Erzählung müsste folglich diese Schwächen und Widersprüche aufgreifen und besonders das gemeinsame Gestalten und die gesellschaftliche Kooperation betonen. Einerseits muss die eigene Partei und Bewegung als gesellschaftliche Geschichte erzählt werden. Dabei geht es nicht um Details, sondern um ein "gefühltes" Programm, in dem deutlich werden soll, in welche Richtung gehend und für wen man sich Politik und Gesellschaft vorstellt – und für wen nicht.

Diese Praxis ist in den Parteien zu oft vernachlässigt und geringgeschätzt worden. Andererseits muss eine Praxis des erzählerischen Daches und des "narrativen Sammelns" wiederbelebt werden, und dies vor allem auch auf lokaler Ebene. Denn obwohl heutzutage die Hürden sehr viel höher sind, über soziale Gruppen hinweg zu wirken, ist die Erfahrung kollektiver Mobilisierung das, was Menschen sich von Bewegungen erhoffen – was diese bei der europäischen Sozialdemokratie derzeit nicht mehr zu finden glauben. (Felix Butzlaff, 21.6.2019)