Bruno Kreisky (links, noch als Staatssekretär) und Leopold Figl (rechts daneben und nicht mehr Bundeskanzler) brachten ihren Parteien jeweils die höchsten Wahlsiege. Dieses Bild aus dem Jahr 1955 zeigt sie gemeinsam beim Empfang von UdSSR-Außenminister Wjatscheslaw Molotow in Bad Vöslau.

Foto: Votava

Wien – Es gab einmal eine Zeit, zu der absolute Mehrheiten möglich waren. Man muss allerdings ziemlich weit in der Geschichte der Zweiten Republik zurückgehen, um eine solche Nationalratswahl zu finden, fast genau 40 Jahre: Am 6. Mai 1979 errang Bruno Kreisky den höchsten Wahlsieg für die SPÖ, nämlich 51 Prozent. Noch weiter zurückgehen muss man, wenn man nach vergleichbaren Erfolgen der ÖVP sucht: Ihren größten Erfolg hatte sie nämlich bei der allerersten Nationalratswahl der Zweiten Republik im November 1945. Leopold Figl bekam damals 49,8 Prozent.

Die Wahlforscher Corinna Mayerl und Günther Ogris von Sora haben für ein Projekt des Hauses der Geschichte gemeinsam mit der Parlamentsdirektion den Besonderheiten der Nationalratswahlen seit 1919 nachgespürt und vor allem Wählerströme nachgerechnet.

Lagerdenken ist erodiert

Der historische Vergleich macht erst deutlich, wie sich das Lagerdenken wenn schon nicht aufgelöst, so doch zersplittert hat – und wie mobil die Wähler zwischen den Parteien, teilweise auch deren Lagern, geworden sind.

Noch bis in die 1970er-Jahre weisen die Wählerstromanalysen rund 80 bis 90 Prozent aller Wähler als "konstante Parteiwählerinnen und -wähler" aus, die also von Nationalratswahl zu Nationalratswahl jeweils gleich wählten – bei der Wahl 2017 waren es nur mehr 56 Prozent.

Umgekehrt hat sich der Anteil der Wechselwähler kräftig erhöht. Am geringsten war er bei der Nationalratswahl 1975 (auch damals gewann Kreisky mit 50,4 Prozent die Absolute), als nur jeder elfte Wähler anders wählte als 1971. Am höchsten war der Wechselwähleranteil 2017 mit 37 Prozent.

Nichtwähler werden entscheidende Größe

Allerdings war die Wahlbeteiligung in den 1970er-Jahren auch deutlich höher: Bis zur Wahl 1983 lag sie stets über 90 Prozent – Wechselwählen bedeutet seither häufig, dass man nicht zu einer anderen Partei wechselt, sondern von den inzwischen üppig ausgebauten Wahlmöglichkeiten (allgemeine Briefwahlen gibt es seit 2007) gar keinen Gebrauch macht. Umgekehrt können attraktive Kandidaten bisherige Nichtwähler motivieren und damit bedeutende Wählerströme generieren.

Diese Wählerströme lassen sich auch für historische Wahlen – soweit detaillierte Daten vorliegen – nachrechnen. Und eben das ist der Inhalt des Projekts, das im Haus der Geschichte nun allen Besuchern die Möglichkeit gibt, politische Entwicklungen selbst nachzuvollziehen.

Historischer ÖVP-Wahlsieg 2002

Da gibt es wenig spektakuläre Wahlen wie jene von 1966 und 1975, als die jeweilige Kanzlerpartei 19 von 20 ihrer Wähler vom vorigen Wahlgang halten und noch etwas dazugewinnen konnte. Für die Statistiker – und das politikinteressierte Publikum – spannender sind Wahlen, die einen Mehrheitswechsel gebracht haben. Besonders auffallend war das 2002, als die FPÖ wieder einmal an den eigenen Widersprüchen gescheitert und aus der Koalition geflogen ist: Daraufhin verlor die FPÖ mit 753.000 Stimmen fast zwei Drittel ihrer Wähler von 1999.

Die Hälfte der FPÖ-Wählerschaft von 1999, rund 630.000 Personen, machte 2002 ihr Kreuzerl bei der ÖVP von Wolfgang Schüssel, der so den größten Wählerstrom der österreichischen Geschichte verbuchen konnte.

Buhlen um ehemalige Nazis

Und noch eine Wahl ist selbst nach 70 Jahren noch spannend: 1949 waren 556.000 sogenannte "Minderbelastete" (NSDAP-Mitglieder, denen keine konkrete Schuld nachgewiesen werden konnte) sowie entlassene Kriegsgefangene und neu eingebürgerte Vertriebene erstmals wahlberechtigt – und die Parteien bemühten sich, ihren Anteil an diesem 940.000 Personen umfassenden Wählerstock zu sichern.

Besonders erfolgreich war laut der Wählerstromanalyse der neu gegründete Wahlverband der Unabhängigen, ein Vorläufer der FPÖ, der 229.000 der 940.000 neuen Wahlberechtigten für sich gewinnen konnte, das war etwa jeder zweite WdU-Wähler oder 24 Prozent der neu Wahlberechtigten. Je 31 Prozent dieser Gruppe landeten bei den damaligen Koalitionsparteien ÖVP und SPÖ, sechs Prozent bei der KPÖ, und sieben Prozent verloren sich bei Kleinparteien und den Nichtwählern. (Conrad Seidl, 24.6.2019)