Berlin/Kassel – Mehrere Hundert Menschen haben am Samstag an einer Mahnwache für den ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in dessen Heimatstadt Wolfhagen teilgenommen. Unterdessen geht die Debatte weiter, wie Politik und Behörden den Kampf gegen Rechtsextremismus in Deutschland verstärken können.

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) kündigte in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Samstag) an, er wolle "dem Rechtsstaat mehr Biss geben". Er fügte hinzu: "Dieser Mord motiviert mich, alle Register zu ziehen, um die Sicherheit zu erhöhen." Beim Personen- und Objektschutz müssten alle Ebenen einbezogen werden, auch die kommunale Ebene. "Es ist unsere Pflicht, das Menschenmögliche zu tun, um jene zu schützen, die bedroht werden." Mit Blick auf Hetze und Hass im Netz betonte Seehofer: "Beleidigung, Verleumdung, Volksverhetzung gehören offline wie online verfolgt."

"Wir sind das Verfassungsressort"

Prüfen will der Minister ferner, Demokratiefeinden Grundrechte zu entziehen. Einen entsprechenden Vorstoß hatte vor wenigen Tagen der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber unternommen. "Wir sind das Verfassungsressort. Wir werden die Möglichkeiten ernsthaft prüfen", betonte Seehofer.

Gegen ein solches Vorhaben gibt es jedoch große Widerstände. Thüringens CDU-Chef Mike Mohring hält von der Idee wenig. Es sei verständlich, sich nach dem Mord an Lübcke Gedanken zu machen, sagte Mohring dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Samstag). "Es ist rechtlich und politisch jedoch problematisch, individuelle Grundrechte einzuschränken. Verfassungsfeinde sollten nicht als Märtyrer aus solchen Debatten hervorgehen. Der einschlägige Grundgesetzartikel ist von eher symbolischer Natur, sein rechtlicher Gebrauchswert tendiert gegen Null", sagte Mohring.

Ablehnung

Auch SPD, Grüne und FDP lehnen den Vorschlag ab. SPD-Vize Ralf Stegner sagte dem "Tagesspiegel" (Sonntag): "Die Rechtsradikalen wollen unsere Grundrechte aushöhlen und streben ein System an, in dem es solche Grundrechte gar nicht geben würde. Unser demokratischer Rechtsstaat unterscheidet sich von solchen Systemen grundsätzlich auch dadurch, dass diese Grundrechte für alle gelten." Statt Einzelnen die Grundrechte zu entziehen, müsse man die rechten Demokratiefeinde mit allen friedlichen Mitteln bekämpfen und politisch ächten. Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagte dem "Tagesspiegel": "Den Rechtsstaat verteidigt man nicht, indem man ihn für einige abschafft." Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, erklärte: "Das Strafrecht besitzt genug harte Instrumente gegen Extremisten. Wichtig ist, dass die Behörden diese entschlossener nutzen." Seehofers Vorschlag hingegen sei falsch und würde eine ideale PR-Bühne für rechte Hetzer bieten.

Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke war in der Nacht zum 2. Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses im hessischen Wolfhagen-Istha niedergeschossen worden. Dringend tatverdächtig ist Stephan E., der 45-Jährige sitzt in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft stuft das Verbrechen als politisches Attentat mit rechtsextremem Hintergrund ein.

Ohne Tabu

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kündigte eine Bekämpfung von gewaltbereiten Neonazis an. Diese müssten "in den Anfängen bekämpft werden und ohne jedes Tabu", sagte sie am Samstag beim Evangelischen Kirchentag in Dortmund. "Deshalb ist der Staat hier auf allen Ebenen gefordert, und die Bundesregierung nimmt das sehr, sehr ernst." Zum mutmaßlichen Mord an Lübcke sagte Merkel, das sei "nicht nur eine furchtbare Tat, sondern für uns auch eine große Aufforderung, auf allen Ebenen noch einmal zu schauen, wo es rechtsextreme Tendenzen oder Verwebungen gibt".

Außenminister Heiko Maas rief zu Protesten gegen Rechtsextremisten auf. "Zeigen wir, dass wir mehr sind als die Rechtsradikalen, die Antisemiten, die Spalter", schreibt der SPD-Politiker in einem Gastbeitrag für die "Bild"-Zeitung (Samstag). "Vielleicht braucht unser Land nicht nur die Fridays for Future, die so viel in Bewegung gebracht haben. Sondern auch einen Donnerstag der Demokratie", fügte Maas hinzu. Er betonte: "Wegsehen kann tödlich sein. Wir müssen den Rechtsterrorismus endlich als solchen benennen."

Mahnwache

Während der Mahnwache in Lübckes Heimatstadt Wolfhagen entzündete der Dekan des Evangelischen Kirchenkreises, Gernot Gerlach, drei Kerzen – darunter eine "für alle Anwesenden, die dem Zerstörungswahn der Rechtsextremisten widerstehen und sagen: Halt, stopp!". Die Täter hätten Lübcke zwar das Leben genommen, könnten ihm aber nicht seine Würde rauben. "Er ist als Christ ermordet worden", sagte der Geistliche, der Lübcke seit den 1990er-Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder begegnet war. "Diesen Politiker zeichnet aus, dass er sich mit einer klaren Haltung des christlichen Glaubens politisch eingebracht hat."

In mehreren deutschen Städten demonstrierten am Samstag Menschen gegen den Rechtsextremismus. In Kassel folgten nach Polizeiangaben rund 1.200 Menschen dem Aufruf eines Bündnisses aus Parteien, Gewerkschaften und lokalen Organisationen. "Schon wieder ist es Kassel", hieß es in dem Aufruf mit Blick auf das letzte Mordopfer der rechtsextremen Terrorgruppe NSU – Halit Yozgat wurde 2006 in Kassel erschossen. In Hamburg gab es eine Kundgebung vor der AfD-Zentrale mit rund 150 Teilnehmern.

Der Verdächtige Stephan E. hatte möglicherweise noch in diesem Jahr intensiven Kontakt zur rechtsextremen Szene. Stephan E. habe an einem konspirativen Treffen von Mitgliedern von Neonazi-Organisationen teilgenommen, berichtete am Freitag das ARD-Magazin "Monitor". Das Magazin beruft sich auf Fotos, die es mit einem Gutachter ausgewertet hat. Demnach besuchte E. am 23. März eine rechtsextreme Veranstaltung im sächsischen Mücka, wo er mit Mitgliedern der neonazistischen Organisation "Combat 18" und der neonazistischen Vereinigung "Brigade 8" fotografiert wurde. (APA, AFP, 22.6.2019)