Keiner weiß, warum Jai Paul gerade jetzt alte Fragmente veröffentlicht hat. Vermutlich deshalb, weil sie immer noch sehr frisch wirken.

Foto: Jai Paul

Ende 2020 steht nicht nur die Wahl um die besten, relevantesten und disruptivsten (!) Alben des Jahres ins Haus, sondern zusätzlich die Vermessung eines ganzen Jahrzehnts. Trends und Tendenzen der Jahre 2011 bis 2020 wollen schließlich erkannt und gedeutet werden. Wer sich vor Vorfreude kaum halten kann, dem sei zumindest ein Phänomen jetzt schon verraten: Es wird ein Jahrzehnt gewesen sein, in dem Musikveröffentlichen neu definiert wurde.

2014 ernteten U2 einen Shitstorm, weil sich ihr Album Songs of Innocence plötzlich in den i-Tunes- Bibliotheken vieler Apple-User manifestierte, ohne dass diese dem vorher zugestimmt hatten. Schon im Jahr davor ging anders Schwindeliges vonstatten: Rapfürst Jay-Z gewährte einer Million Samsung-Kunden vorab Zugriff auf sein qualitativ eher durchwachsenes Album Magna Carta Holy Grail, sicherte sich damit vor der offiziellen Veröffentlichung Platinstatus und ein hübsches Taschengeld – irgendwie muss man ja Milliardär werden.

Seine bessere Hälfte, Beyoncé, schoss den Vogel überhaupt ab und schleuderte ihr gleichnamiges Album gleich ganz ohne Vorankündigung und Werbung der Welt entgegen – Promo hatte sie längst nicht mehr nötig. Rundherum wurde anarchisch geleakt. Das heißt, Alben wurden vor ihrem geplanten Veröffentlichungsdatum von Hackern, unterbezahlten Tontechnikern und manchmal sogar von den Künstlern selbst ins Internet gestellt.

Phänomenaler Matsch

Unfreiwillig traf es zum Beispiel Jai Paul. Eine Sammlung von 16 Skizzen des jungen britischen Produzenten mit indischen Wurzeln wurde 2013 illegal online gestellt. Schon davor wurde der enigmatische Musiker als Popinnovator in den Himmel gelobt – und das nur auf Basis von zwei veröffentlichten Songs namens jasmine (demo) und BTSTU (edit).

Jai Paul

Und dann waren da auf einmal 16 wilde, bunte und eigenständige Ideen einfach downloadbar. Was Jai Pauls Fragmente so besonders machte, war vor allem die ungewohnte Soundästhetik. In einer Zeit, die das Herstellen von glasklarem Klang mit einfachsten Mitteln ermöglichte, entschied er sich für das Gegenteil.

Sein Material klang bewusst verwaschen, so als würde man es durch Ohrenstöpsel hören. Das Paul’sche Falsett klebte – oft scheinbar viel zu leise – an den Leadsynths und ging zwischen den anderen Instrumenten und Samples und allem Digitaldreck bereitwillig unter. Nur der Bassdrum gelang es immer, sich einen Weg durch diesen phänomenalen Matsch zu bahnen.

Obgleich Paul seinen Prince und D’Angelo intus, die Synthesizer aus den 1980ern und die Samples von überall hatte, kreierte er – man traut sich kaum, es zu sagen – etwas Neues. Auch 2019 entwickeln diese bezaubernd wummernden Miniaturen immer noch einen faszinierenden Sog.

Jai Paul

Der Medienscheue tauchte ab

Neu oder zumindest ungewohnt war auch Pauls Reaktion auf den Leak: Während andere betroffene Künstler ihr Material nach einem Raub möglichst schnell offiziell veröffentlichen, um noch ein bisschen daran zu verdienen, hatte Jai Paul genug gesehen. Der medienscheue Künstler, über den man wenig weiß, tauchte für sechs Jahre ab – abgesehen von ein paar Produktionsprojekten mit seinem nicht minder talentierten Bruder A. K. Paul.

Jai Paul

Was ihn gerade jetzt geritten hat, doch noch offiziell mit seinen Skizzen herauszurücken, weiß nur der Teufel. Vor wenigen Tagen wurden die 16 Stücke unter dem Namen Leak 04–13 (Bait Ones) jedenfalls offiziell veröffentlicht. Einige eher subtile Änderungen wurden zwar vorgenommen, fertiggestellt wurden die Lieder aber nicht. Zwei neue Singles, Do You Love Her Now und He, die zwar etwas glatter, aber immer noch unverkennbar nach Jai Paul klingen, wurden zusätzlich veröffentlicht.

Jai Paul

"I’m back and I want what is mine" sang Paul schon auf BTSTU (edit). Nun ist er endlich wirklich zurück und holt sich hoffentlich, was ihm zusteht: Mit Leak 04–13 sollte sich ein Platz unter den besten, relevantesten und disruptivsten (!) Alben des Jahrzehnts jetzt auch ganz offiziell ausgehen. (Amira Ben Saoud, 24.6.2019)