Die vielen Gesichter des Michael Jackson: Zu seinem Denkmal in München werden am Todestag wieder zahlreiche Fans pilgern. Hier demonstrierten sie auch gegen die Doku "Leaving Neverland".

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Michael Jackson bei seinem letzten Missbrauchsprozess im Jahr 2005, der mit einem Freispruch endete.

Reuters

Es mag grotesk anmuten, aber der Tag, an dem Michael Jackson starb, ist vielen genauso gut in Erinnerung wie 9/11 oder der Fall der Berliner Mauer. Den Autor des Artikels ereilte die Nachricht vor genau zehn Jahren, am 25. Juni 2009, bei der abendlichen Maturafeier. Ungläubig steckten wir die Köpfe über einem der ersten Smartphones zusammen, die damals noch nicht jeder hatte. Ob man wollte oder nicht – aus der Maturafeier wurde ein halbes Michael-Jackson-Tribute.

Aufgeklärt und desillusioniert fühlten wir uns schon damals. Wir, die wir den King of Pop der 80er- und 90er-Jahre eher als Gespenst des Pop aus den Nullerjahren kennengelernt hatten. Über seine Vita, die Vorwürfe des Kindesmissbrauchs, die Prozesse, waren wir wohl informiert. Einige sahen in Michael Jackson bloß noch eine Fußnote aus der SlapstickTeenie-Komödie Scary Movie, in der er als pädophiles Alien mit Aufstecknase parodiert wurde.

Und doch verblassten unter dem Eindruck seiner tagelang durchgängig abgespielten Hits, des berührenden Begräbnisevents und des beeindruckenden posthumen Kinofilms über die Vorbereitungen zu seiner letzten geplanten Show die Erinnerungen an die dunklen Flecken. Sie verblassten auch angesichts der gängigen Erzählung von Jacksons geraubter Kindheit, vom prügelnden Vater und von den zerstörerischen Mechanismen des Showgeschäfts.

Eine Doku, die alles ändert

Am 25. Jänner 2019 ist Michael Jackson nun ein zweites Mal gestorben. In der vierstündigen Dokumentation Leaving Neverland erzählen die heute knapp 40-jährigen Wade Robson und James Safechuck minutiös, dass sie als Buben zwischen sieben und 14 Jahren von ihrem Idol sexuell missbraucht worden seien. Eindrücklich schildern die Männer, wie sich Jackson das Vertrauen von Kindern und Eltern erschlichen haben soll, welche Systematik der durch Angestellte und Mitwisser gedeckte Missbrauch entwickelt habe und welche kriminelle Energie der Star bei der psychischen Manipulation der Kinder habe walten lassen. Wer geneigt ist, den Männern zu glauben, kann in Jackson nicht mehr nur das psychisch labile Genie sehen, es überwiegt der Blick auf einen Täter.

Ist es noch möglich, seine Welthits ohne schlechtes Gewissen zu hören? Während Radiosender in aller Welt darüber streiten und sich tendenziell gegen eine Verbannung und für eine Reduktion entscheiden, bleiben Fanatisierte unbeeindruckt: Am Münchner Michael-Jackson-Denkmal demonstrierten Fans gegen die Doku, auch die Errichter des Jackson-Denkmals in Mistelbach sehen in den Enthüllungen nur Lug und Trug.

Das Michael-Jackson-Denkmal in Mistelbach wurde wiederholt zum Ziel von Vandalismus. Oder war es Protest gegen den Künstler?
Foto: Michael Pfabigan

Die Frage, ob sich Werk und Künstler voneinander trennen lassen, stellt sich tatsächlich erst seit wenigen Jahrzehnten. Von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert gestand man dem Genie nämlich zu, es dürfe oder solle sich sogar außerhalb des allgemeinen Rechtsverständnisses bewegen. Stellvertretend für die Normalbürger solle es die Grenzen von Sitten und Moral nicht nur ausloten, sondern diese in einer Art Experiment sogar übertreten.

Caravaggio bis Picasso

"Der Künstler galt als herausgehoben, weil man ihm eine besondere Beziehung zum Höheren zutraute, zum Schönen und Schrecklichen und ebenso zu Gott", schreibt Hanno Rauterberg in seinem Essay Wie frei ist die Kunst?. "Der Schöpfer selbst schien sich im schöpferischen Künstler, im divino artista, zu verkörpern. Nicht zuletzt aus diesem Grund wollte mancher ihn für unantastbar halten. Ein Gott kann nicht sündigen", so Rauterberg.

Die Mär, dass erst der aktiv oder passiv erlebte Wahnsinn große Kunst hervorbringt, wurde befördert und weitergetragen. Der Vita des Totschlägers Caravaggio dichtete man posthum weitere Verfehlungen an, um jenen brutalen Realismus, der sich etwa im Gemälde Judith enthauptet Holofernes findet, durch den Mythos vom Wahnsinn fassbarer zu machen.

Für eine klare Trennung von Künstler und Werk plädierten 1946 die Theoretiker William Wimsatt und Monroe Beardsley. Ihre Rede vom "intentionalen Fehlschluss", die auf die Kulturkritik enorm einflussreich werden sollte, verneinte systematisch, ein Kunstwerk mit seinem Schöpfer in Verbindung zu bringen. Doch die Auffassung, wonach ein Werk gänzlich für sich allein stehen solle, hat ihre Tücken.

Adolf Loos bis Klaus Kinski

"Wie stark das Ansehen des Künstlers hineinspielt in das Ansehen seiner Werke, hängt maßgeblich davon ab, wie stark dieser in seinem Werk präsent ist", schreibt Hanno Rauterberg. Kaum jemand würde etwa zum Sturm auf Pablo Picassos Kubismus blasen, obwohl bekannt ist, dass er viele seiner Frauen sexuell nötigte und bis in den Selbstmord trieb.

Aber viele werden zustimmen, dass der Mensch Klaus Kinski, der sich des jahrelangen Missbrauchs seiner Tochter schuldig gemacht haben soll, auch den Schauspieler Kinski, der seinen Figuren unergründliche Diabolik verliehen hatte, in anderem Licht erscheinen lässt. Ebenso fällt es schwer, Otto Muehls sexuelle Bilder losgelöst vom Missbrauch in dessen Kommune zu betrachten. Und wer auch nur ein bisschen psychologisiert, kann selbst Adolf Loos' Feldzug gegen das Ornament und dessen Eintreten für glatte Wände als ästhetische Übersetzung seiner Pädophilie werten, die bis in jüngste Zeit gern negiert wurde.

Die Perfidie, in der Loos damals vor Gericht behauptete, er habe als großer Wohltäter den sozial benachteiligten Mädchen aus ihrer Misere helfen wollen, erinnert wiederum an Michael Jackson, der nicht nur Millionen an Hilfsorganisationen spendete, sondern stets bekundete, Wertvolles zur Entwicklung seine minderjährigen Gefährten beizusteuern.

Alles verdammen?

Lässt sich der Mensch Jackson nun wenigstens von seinem Werk trennen? Nur schwer. Denn sowohl musikalisch als auch textlich ist der Bezug zum Kind zu offenkundig. "I see the kids in the streets / With not enough to eat / Who am I to be blind? / Pretending not to see their needs", heißt es im Welthit Man in the Mirror.

Und doch ist mit der Auslöschung der Kunst, einer Damnatio memoriae, wie sie etwa an Kevin Spacey im Zuge von #MeToo demonstriert wurde, wenig erreicht. Bei NS-belasteten Denkmälern sieht man heute meist davon ab, setzt vielmehr auf aufklärende Hinweise. Zur Diskussion über Kunst als Produkt kommt dann jene über den Künstler als (fehlbaren) Menschen hinzu. Das ist interessanter und lehrreicher als jede Form der Auslöschung.

Auf der Playlist zum zehnjährigen Maturatreffen wird Michael Jackson wohl fehlen – als harmlose Partymusik hat sein Werk Federn gelassen. Als Diskussionsgrundlage aber lohnt es vielleicht gerade jetzt, genau hinzuhören. (Stefan Weiss, 25.6.2019)