Die Dabaklamm zeigt sich an diesem Frühsommervormittag von ihrer schönsten Seite. In der wildromantischen Schlucht, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Großglockner den Osttiroler Ort Kals mit dem Dorfertal verbindet, ist es angenehm kühl. Das Rauschen des Dorferbachs wird durch die Berghänge verstärkt, die links und rechts hunderte Meter steil nach oben ragen.

Unweit dieser Stelle, am Ende der Dabaklamm und am Beginn des Dorfertals, hätte eine 220 Meter hohe Talsperre das Naturjuwel fluten sollen.
Foto: Nationalparks Austria / Brunner Pictures

Nicht nur im Wildbach finden sich Spuren der ungezähmten Natur – wie die Reste eines vom Bach ausgehöhlten Lawinenkegels. Auch der Weg durch die Klamm ist immer noch durch das jüngste Hochwasser beeinträchtigt: Jener Aussichtspfad, der angelegt wurde, um die Wildheit des Bachs besser beobachten zu können, wurde damals durch die Wassergewalten so sehr unterspült, dass seitdem Wanderer und Radfahrer für eine kurze Wegstrecke einen unbeleuchteten Tunnel als Ausweichroute nehmen müssen.

Wunderbare Aussichten

Wenig später öffnet sich die Klamm und gibt einen grandiosen Panoramablick frei auf das Dorfertal, eines der schönsten Trogtäler der Ostalpen, das – so wie auch schon die Dabaklamm – Teil des Nationalparks Hohe Tauern ist.

Blick ins Dorfertal, links der Dorferbach. Rechts geht es zum Großglockner.
Foto: Klaus Taschwer

Dass hier der wieder etwas ruhigere Dorferbach in seinem breiten Bachbett durch die Almwiesen mäandert, auf denen Kühe beschaulich ihr Gras fressen und Touristen wandernd und Rad fahrend die Natur genießen können, ist keine naturgegebene Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis einer langen und zermürbenden Auseinandersetzung, die vor ziemlich genau dreißig Jahren entschieden wurde.

Einer der Protagonisten dieses Kampfes war Wolfgang Retter, der an diesem Vormittag mit seiner Frau Erika die Besuchergruppe begleitet. "Bis hier wäre die 220 Meter hohe Staumauer gegangen", sagt der frühe Tiroler Umweltaktivist aus Lienz und zeigt auf eine Stelle hoch oben am gegenüberliegenden Berghang. "Für ein Staukraftwerk ist das der perfekte Ort: eine enge Schlucht, die relativ leicht abzusperren ist, und dahinter das riesige Tal als gewaltiger Wasserspeicher."

Frühe Kraftwerkspläne

Das wurde auch von der E-Wirtschaft früh erkannt: Bereits in den 1920er-Jahren gab es erste Ideen für die energiewirtschaftliche Nutzung der Gewässer im heutigen Osttiroler Nationalparkgebiet, und einer der sieben geplanten Speicherseen hätte das Kalser Dorfertal fluten sollen. Diese Pläne wurden Anfang der 1970er-Jahre nicht zuletzt wegen der Ölkrise wiederaufgenommen.

Das damals präsentierte Planungsmodell, das auch als "Brutalvariante" bekannt wurde, sah vor, dass 17 Gletscherbäche in einen Großspeicher abgeleitet werden sollten, aufgestaut von der 220 Meter hohen Talsperre. (Zum Vergleich: Österreichs höchste Talsperre, die Kölnbreinsperre im Maltatal in Kärnten, ist 200 Meter hoch.) Der gefüllte Speicher hätte einen Energiegehalt von 814 Gigawattstunden aufgewiesen und wäre der größte Speicher Österreichs geworden, der vor allem zur Produktion von Spitzenstrom gedient hätte.

Visualisierung der Talsperre samt halb geflutetem Dorfertal.
Grafik: wasser-osttirol.at

Diese Pläne riefen den hauptberuflichen Lehrer Retter auf den Plan, der 1973 mit Gleichgesinnten den Verein zum Schutz der Erholungslandschaft Osttirol gründete. Damit begann ein "15 Jahre langer Kleinkrieg", wie der fitte 81-Jährige erzählt, in dessen hellwachen Augen immer noch der Kämpfergeist funkelt. Retter setzte vielfältige Aktivitäten, um das Kraftwerk zu verhindern und um zu zeigen, dass einander eine Staumauer und der damals in Planung befindliche Nationalpark widersprechen, was nicht zuletzt durch ein Gutachten von Fritz Kastner (Uni für Bodenkultur) gestützt wurde.

In den 1980er-Jahren spitzte sich die Auseinandersetzung dann zu: Zum einen wurden die Kraftwerkspläne konkreter, zum anderen feierten Österreichs Umweltschützer mit ihrem Protest gegen das Kraftwerk Hainburg im Dezember 1984 einen historischen Sieg. Dieser Erfolg sollte nicht nur zum Gründungsmoment für den Nationalpark Donau-Auen werden, sondern auch sonst die (Umwelt-)Politik in Österreich nachhaltig verändern.

Weiblicher Widerstand

Rund um diese Zeit begann sich auch in Kals Widerstand zu formieren – und zwar aus genderhistorischer Sicht von eher ungewöhnlicher Seite: Rund um die Ortsbäurin Marianne Gratz und ihre Nichte Theresia Hartig wurden vor allem weibliche Bewohner des Orts aktiv und begannen sich als "Frauen von Kals" gegen das Kraftwerk zu engagieren.

Drei der Aktivisten, die maßgeblich dazu beitrugen, dass die Kraftwerkspläne nicht realisiert wurden: Theresia Hartig von den Kalser Frauen sowie die Naturschützer Erika und Wolfgang Retter (von links).
Foto: Nationalparks Austria / Brunner Pictures

"Das war ein harter Kampf", sagt Hartig und erinnert sich an dutzende Besuche von Spitzenpolitikern aus Innsbruck und Wien, um deren Aufmerksamkeit sowohl die Vertreter der Energiewirtschaft wie auch die Umweltschützer buhlten. "Die Konflikte gingen damals quer durch die Familien", so die ehemalige Aktivistin. Viele junge Männer aus Kals und Umgebung erhofften sich durch den Kraftwerksbau zumindest zehn Jahre lang gut bezahlte Arbeit.

Am 20. September 1987 kam es zu einer Volksbefragung, bei der sich 63,5 Prozent der Kalser gegen das Kraftwerk aussprachen. Dieses Ergebnis wiederum trug den Kalser Frauen die Unterstützung von zwei prominenten Vertreterinnen der ÖVP ein: Marilies Flemming, die sich schon gegen Zwentendorf und Hainburg engagiert hatte und 1987 Umweltministerin wurde, und Marga Hubinek, damals Zweite Präsidentin des Nationalrats, solidarisierten sich – ganz gegen ÖVP-Linie – mit den Kalserinnen.

Der dritte Triumph

Trotz weiterer Forderungen der Energiewirtschaft verkündete der damalige ÖVP-Wirtschaftsminister Robert Graf am 30. März 1989, das Speicherkraftwerk Dorfertal habe keine Priorität mehr. "An dem Tag wussten wir, dass der Kampf gewonnen war", sagt Hartig. Am 28. Juni vor 30 Jahren folgte die Bestätigung durch Bundeskanzler Franz Vranitzky und den Ministerrat. Was letztlich die Gründe dafür waren, ist nicht ganz klar. Gewiss hat damals aber auch mitgespielt, dass damals die Preise für die Erzeugung von Spitzenstrom stark gesunken waren und die wirtschaftliche Rentabilität unsicher war.

Die österreichische Ökologiebewegung feierte damit jedenfalls nach Zwentendorf und Hainburg ihren dritten, etwas vergessenen Triumph. Und im Dorfertal wurden aus Dank für das Engagement der beiden ÖVP-Politikerinnen zwei Kühe Marga und Marilies getauft. (Klaus Taschwer, 27.6.2019)