Die SPÖ will nach vorn. Dazu sollte die Partei unter ihrer Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner frühere Positionen reflektieren.

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Warum Österreichs Sozialdemokraten den dänischen Weg einschlagen sollten, erklärt Kulturwissenschafter Christoph Landerer im Gastkommentar. Eine andere Position in der SPÖ-Debatte vertritt SJ-Vorsitzende Julia Herr.

Viel war von der Krise der SPÖ die Rede in den letzten Wochen, nur wenig las man über die tieferliegenden Gründe für die Misere der Partei. Die SPÖ verfügt über keine klare, innerparteilich konsensfähige Analyse ihrer Situation. Sie dünnt in ihrem klassischen Wählersegment dramatisch aus und hat seit Jahren Wähler an die FPÖ verloren; die Wählerstromanalysen weisen periodisch den größten Austausch in diese Richtung aus. Das Band mit der ÖVP wurde zerschnitten, eine rot-blaue Koalition würde die Partei zerreißen.

Aber auch linke Mehrheiten sind nicht Sicht. Da es an Angeboten fehlt, die verlorenen Wähler zurückzuerobern, bleibt der SPÖ nur der Kannibalismus im linken Lager, also der Versuch, wie Christian Kern es kürzlich ausgedrückt hat, "im linken und liberalen Spektrum der Gesellschaft die bestimmende Kraft zu sein". Doch dadurch wird die Polarisierung verstärkt und die Mehrheit von ÖVP und FPÖ einzementiert. "Verfahren" wäre noch ein vergleichsweise gnädiger Ausdruck für diese Situation.

Typische Kanzlerpartei

Die Lage, in der sich die Partei befindet, ist eine Folge strategischer und inhaltlicher Weichenstellungen, die die SPÖ nicht ausreichend reflektiert. Im Kontext der jüngeren österreichischen Geschichte ist die ÖVP nicht die typische Kanzlerpartei, lediglich zweimal schaffte sie es im letzten halben Jahrhundert auf Platz eins bei Nationalratswahlen; und auch das nur unter besonderen historischen Bedingungen: 2002 nach der Implosion der FPÖ und 2017 im Gefolge der "Flüchtlingskrise" und im politischen Nachklang der chaotischen Verhältnisse von 2015/2016. Ganze dreißig Jahre, von 1970 bis 2000, stellte dagegen die SPÖ ununterbrochen den Kanzler; es dürfte sich dabei um eine der längsten Kanzlerperioden der westlichen Welt handeln.

Das Thema, dem sich die aktuellen Erfolge der ÖVP und von Sebastian Kurz persönlich primär verdanken, ist zugleich auch der Hauptstimmenbringer der FPÖ: Migration und Asyl. Hier vermeidet die SPÖ seit Jahren eine offene, undogmatische Auseinandersetzung – aus Sorge um den Zusammenhalt der Partei, doch dieser Kurs hat Folgen.

"Rechte Signale"

Als sie noch unbestrittene Kanzlerpartei war, hat die SPÖ in diesem Segment nur bedingt eine Politik betrieben, die sich als links und liberal bezeichnen ließe. Die steigende Arbeitslosigkeit im Gefolge der Ölkrise 1973 wurde durch eine harte Politik gegenüber den im Land befindlichen Gastarbeitern abgemildert; etwa ein Drittel verließ Österreich wieder in den Folgejahren. Die rot-blaue Koalition unter Kanzler Fred Sinowatz hat nicht für "liberalere" Verhältnisse gesorgt, das Innenministerium blieb mit Franz Löschnak und Karl Schlögl auch in den 1990er-Jahren eine Domäne des Rechtsaußenflügels der Partei – die einzige Ausnahme von diesem Prinzip waren die 22 Monate des glücklosen – und vom roten Sicherheitsapparat boykottierten – Caspar Einem am Ende der Regierung Vranitzky.

In der Zeit ihrer stabilen Regierungsperiode wusste die SPÖ, dass es im Sicherheitsbereich "rechte" Signale braucht und dass "Fremdenpolitik" unter die Oberhoheit von Berechenbarkeit und Kontrolle gestellt werden muss – aber sie hat diesen Kompass in den folgenden zwei Jahrzehnten verloren.

Giftzahn Migration

Nur so ist es auch zu erklären, dass die Partei 2016 dem damaligen Außenminister Sebastian Kurz ohne Not eine Analyse überlassen hat, die auf sicheres Grenzregime, Priorität der "Hilfe vor Ort" und Resettlement vor Asyl setzt. Dass es sich hier um nicht weniger als die Grundpfeiler der Migrations- und Asylpolitik der westlichen Welt handelt, wurde nicht reflektiert, positive Antworten wurden durch Mobilisierung ersetzt. Auch Kurz hat sein Programm nicht eingelöst – doch mit dieser Beobachtung ist nun einmal dann schwer zu punkten, wenn man selbst über keine alternative Konzeption verfügt, die sich in die Waagschale werfen ließe. In der Wahrnehmung vieler Wähler dürfte dieser Zustand bis heute anhalten; tatsächlich ist etwa bei der Frage der Durchsetzung aufenthaltsbeendender Entscheidungen (ob am Bürglkopf oder bei Asylwerbern in Lehre) bis heute keine klare Linie zu erkennen.

Die SPÖ hat strategisch nicht rasend viele Optionen. Realpolitisch bleibt ihr nur der dänische Weg: Sie muss den Giftzahn Migration ziehen, mit einer klaren, markanten und konzeptionell ausgereiften Politik, die der Wähler versteht und die diesen Bereich vom Eindruck eines teilchaotischen Systems in die Wahrnehmung eines planbaren Zustands überführt. Und sie muss, um einen Ausdruck von Hans Peter Doskozil zu verwenden, das "Durchtauchen" bei unbequemen Fragen und Problemen in diesem Bereich beenden. Sie braucht Antworten etwa auf die Frage nach dem Umgang mit abgelehnten Asylwerbern, die das Land nicht dokumentiert verlassen – im Schnitt der letzten zwei Jahrzehnte handelt es sich hier um etwa 10.000 Personen jährlich. Dass auch ÖVP und FPÖ diese Antworten in Wahrheit nicht haben, hilft ihr nicht; im Zweifel entscheiden sich viele Wähler für jene Parteien, die die Probleme zumindest ansprechen.

Strategisches Unvermögen

Die SPÖ muss also die Themenführerschaft über ein Gebiet wiedererlangen, das sie durch selbstverschuldetes strategisches Unvermögen seit Jahren nicht mehr besetzt. Die Antworten werden vielen nicht gefallen, und für jene Wähler, die sie von der FPÖ zurückgewinnt, werden sich andere in Richtung Grüne, Liste Jetzt und Neos verabschieden. Aber nur durch eine solche Gesamtwählerverschiebung ist die rechte Mehrheit überhaupt zu brechen, und nur auf diese Weise gewinnt die SPÖ – wie Matte Frederiksen in Kopenhagen gezeigt hat – Koalitionsoptionen. Es liegt einzig an der SPÖ, diesen Weg auch zu beschreiten. (Christoph Landerer, 26.6.2019)