Gottfried Helnwein stellt der "New York Times" für die Einstellung ihrer Karikaturen ein vernichtendes Zeugnis aus. Die freie Gesellschaft sieht er am Ende.

Foto: Hamish Brown

STANDARD: Was bedeutet das Ende der Karikaturen in der "New York Times" für den künstlerischen Ausdruck von Karikaturisten?

Helnwein: Wir befinden uns am Beginn eines neuen Zeitalters, an der Schwelle der Dystopie einer total überwachten und kontrollierten Gesellschaft, die alle Horrorvisionen Orwells in den Schatten stellt. Das erste Mal in der Geschichte ist totale Überwachung technisch tatsächlich machbar. Totale Überwachung wird aber letztlich immer zu totaler Zensur führen. Wenn Satire und Kunst zensiert werden, bedeutet das auch das Ende der freien Rede und das Ende einer freien Gesellschaft. Diesmal gehen die Zensoren allerdings viel raffinierter vor als ihre plumpen faschistischen Vorfahren, diesmal findet die Eliminierung der Kunst unter dem Mantel des "Gutmenschentums" und der "Political Correctnes" statt.

STANDARD: Welche Auswirkungen hat das Aus für andere Medien – in den USA, in Österreich? Sehen Sie die Gefahr des vorauseilenden Gehorsams, werden die Karikaturen insgesamt "flacher"?

Helnwein: "Vorauseilender Gehorsam" ist ja wirklich nett ausgedrückt. Die Arschkriecher von der "Süddeutschen Zeitung" haben ja erst kürzlich ihren langjährigen Karikaturisten gefeuert, weil er es gewagt hat, eine Karikatur von Netanjahu zu zeichnen, was Erinnerungen daran wachruft, wie vor nicht allzu langer Zeit Günter Grass alles um die Ohren geflogen ist, weil er gewagt hatte, in einem Gedicht auch die Politik Israels zu thematisieren. Diese Äußerungen der Kunst als antisemitisch zu bezeichnen ist ungefähr so logisch, als würde man Kritik an Putin als "antislawisch" bezeichnen.

In den USA wird gerade versucht, Mark Twain aus den Bibliotheken zu verbannen, und bei Neuauflagen seiner Werke werden bestimmte Wörter gegen "politisch korrektere" Begriffe ausgetauscht. An der Cambridge University müssen Studenten vor der Lektüre von Shakespeares Werken ausdrücklich vor "sexuellen und gewaltsamen Szenen" gewarnt werden. Der Deix würde sich im Grabe umdrehen.

STANDARD: Was sagt die Entscheidung der "NYT" über unsere Zeit aus? Sie kritisierten zuletzt die propagandistische Macht der Political Correctness.

Helnwein: Die gesamte weltweite digitale Kommunikation ist in den Händen einer kleinen Elite von Milliardären und Monopolisten, die frei bestimmen können, wer im Netz kommunizieren darf und was. "Political Correctness" ist nichts anderes als das Diktat der Meinungs- und Gedankenkontrolle. Microsoft entwickelt gerade eine neue "Autocorrect"-Software, die nicht nur Rechtschreibfehler korrigiert, sondern auch Inhalte und Begriffe korrigiert und auswechselt, die als "politisch nicht korrekt" angesehen werden.

Bill Gates hat erst kürzlich auf einer Konferenz in Los Angeles stolz verkündet, dass dies der Beginn eines progressiveren Zeitalters sei, in dem Computer die Menschen vor sich selbst schützen werden. Sowohl Microsoft als auch Amazon haben ebenfalls offen erklärt, dass alle Nutzerdaten selbstverständlich an das Pentagon und die Geheimdienste weitergeleitet werden. Microsoft-Präsident Brad Smith hat das damit begründet, dass das amerikanische Militär "ethisch und ehrenhaft" sei.

STANDARD: Es scheint, es gibt spezielle Themen, bei denen man besonders vorsichtig sein muss – Religion, Personen. Wie gehen Sie damit um?

Helnwein: Das ist ja das eigentliche Ziel jeder Zensur, dass sie irgendwann schon im Kopf jedes Einzelnen stattfindet und damit eine wunderbar kontrollierte Gesellschaft von konformistischen Zombies entstehen kann. (Doris Priesching, 27.6.2019)