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Verschwiegene Geschichte: Nach seinem großen Erfolg mit "Underground Railroad" widmet sich Colson Whitehead in "Die Nickel Boys" einem wahren Unrechtsfall.

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Die einzige Schallplatte, die Elwood Curtis ständig hört, spielt keine Musik ab. Es sind die Reden des Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King, die dem Teenager, von dem Colson Whiteheads Roman erzählt, zum liebsten Ohrwurm werden. Reden, die dem von den Eltern im Stich Gelassenen ein Selbstwertgefühl einimpfen und das "Gefühl des Jemand-Seins beschreiten" lassen. Reden, die ihm die Idee vermitteln, dass es in seiner Macht liegt, seinem Leben eine andere Richtung zu verleihen.

Die Bürgerrechtsbewegung hat Anfang der 1960er-Jahre auch Florida erreicht: Elwood wird gegen die Jim-Crow-Gesetze demonstrieren und sich nicht an den Rat seiner Großmutter halten. Diese hat es noch vorzuziehen gelernt, nicht aufzufallen, weil man geduckt besser fährt. Elwood ist aber auch anders als viele Altersgenossen in Tallahassee, die nur auf der Straße abhängen. Er zeigt Leidenschaft beim Lesen. Er hat Ehrgeiz. Er könnte zu jenen gehören, denen der Aufstieg gelingt – ähnlich wie das James Baldwin im autobiografischen Roman Von dieser Welt beschrieben hat.

Weg des Widerstands

Und doch ahnt man in Die Nickel Boys sehr bald, dass alles anders kommen wird. Denn der "Code" von Dr. King, der den unbedingten Glauben an die eigene Würde predigt, bringt auch eine Verpflichtung mit sich: nicht vom Kurs abweichen, wenn es schwierig wird. Allerdings ist dieser Weg des Widerstands der viel gefährlichere. Die Verhältnisse sind noch so, dass sie den Ideen nicht gewaltlos den Platz einräumen, richtig zu gedeihen.

Mit seinem vorherigen Roman, Underground Railroad, ist Colson Whitehead ein großer Wurf geglückt. Der 1969 geborene US-Schriftsteller hat dafür den Pulitzer-Preis und den National Book Award erhalten, gerade wird das fesselnde Buch um eine Frau, die der Sklaverei in Georgia mit einem unterirdischen Zug entkommt, von Barry Jenkins, dem Regisseur von Moonlight, auch aufwändig als TV-Serie adaptiert.

Die Nickel Boys schließt daran zwar thematisch an. Doch im neuen Roman wählt Whitehead, der sich schon öfters als wendiger Autor erwiesen hat, keinen fantastischen Ansatz. Er verwarf einen geplanten Kriminalroman über Harlem, weil ihm der Fall der Arthur G. Dozier School in Florida für die politische Lage bedeutsamer erschien: einer "emblematischen Geschichte über Unrecht, das man noch heute findet und worüber niemand spricht", sagte er in einem Interview.

Ermordete Jugendliche

Die Arthur G. Dozier School für schwer erziehbare Kinder, in der bis 1968 Rassentrennung herrschte, machte 2014 auch in deutschsprachigen Medien Schlagzeilen, als ehemalige Insassen von grauenhaften Misshandlungen berichteten – im Zuge der Nachforschungen wurden zahlreiche Gräber von Kindern ausgehoben, die man anonym auf dem Schulgelände verscharrt hatte.

Für Die Nickel Boys hat Whitehead die Geschichte dieses Raums, in dem man eine eigene Gerichtsbarkeit pflegte, penibel recherchiert und mit seiner emanzipatorischen Fabel von Elwood Curtis verknüpft. Das Ergebnis ist eine Art tragischer Bildungsroman. Der ideelle Aufbruch des Helden mündet durch einen dummen Zufall in eine Institution, welche sich die Willkür der Sklaverei zu eigen gemacht hat.

Und wie Whitehead ausführt, nicht nur im Sinne physischer Gewalt, die in einem etwas abseits gelegenen Haus mit der Peitsche praktiziert wird. Es herrscht auch eine Ökonomie der Ausbeutung (ähnlich der in US-Gefängnissen). Die Lebensverhältnisse sind deshalb so schlecht, weil die Leitung eine Schattenwirtschaft betreibt. Nahrungsmittel werden an Interessenten weiterverkauft. Für die Schüler bleibt nur der Rest. Wie bei einem Arbeitslager spielt man den Kontrolleuren eine Farce vor.

Trotz seiner ernüchternden Botschaft kommt Die Nickel Boys ohne Sensationalismus aus. Das ist das Verdienst von Whiteheads Prosa, die nüchtern und detailreich beschreibt, wie sich die Burschen in diesem Regime der Unterdrückung zu behaupten versuchen, den Exzess dabei aber behände verknappt.

Selbst an einem so horriblen Ort der Welt wie diesem finden sich Nischen der Solidarität. Und über den Schwenk in die Gedankenwelt seiner Figuren zeigt Whitehead, dass auch Widerstandsgeist überlebt. Wenngleich anders, unerwarteter, als man glaubt. (Dominik Kamalzadeh, 27.9.2019)