Chandra Talpade Mohanty: "Wir müssen uns gegen eine neoliberale Idee von Solidarität wehren."

Foto: Christian Fischer

Der Saal war zum Bersten voll, als Chandra Talpade Mohanty ihren Vortrag hielt. Die Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung zählt zu den einflussreichsten postkolonialen TheoretikerInnen, ihr Aufsatz "Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses" gehört zu den Klassikern der feministischen und postkolonialen Theorie. Ende Mai stellte sie in Wien ihr neues Buch vor und sprach über die Frage, wie grenzüberschreitende feministische Allianzen und Solidarität möglich sind und wie Normen wie Freiheit und Gerechtigkeit aus einer starken neokonservativen Vereinnahmung befreit werden können.

STANDARD: Sie sind nach Wien gekommen, um Ihr Buch "Feminist Freedom Warriors: Genealogies, Justice, Politics, and Hope" zu präsentieren, das im Rahmen eines Videoprojekts entstanden ist: Feministinnen of Color wie Angela Davis blicken auf ihre eigene Geschichte zurück. Warum dieser biografische Zugang?

Mohanty: In diesen Gesprächen erfährt man Dinge, die man in wissenschaftlichen Publikationen nur selten zu lesen bekommt. Meine Kollegin Linda E. Carty und ich arbeiteten an der Syracuse University gemeinsam an einer Publikation, und daraus entwickelten wir die Idee, Küchentischgespräche mit Wissenschafterinnen und Aktivistinnen zu führen. Uns hat interessiert, was die Feministinnen dorthin geführt hat, wo sie heute stehen: Wie wurden sie politisiert? Wie haben sie ihre Erfahrungen in der theoretischen Analyse verarbeitet? Obwohl ihre Kämpfe an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfanden, finden sich enorm viele Gemeinsamkeiten in der Kritik an politischen Strukturen, am neoliberalen Kapitalismus. Und auch Strategien, um den Rechten zu begegnen, die sich in so vielen Teilen der Welt im Aufwind befinden. Wir wollten diese globalen Verbindungen sichtbar machen und damit auch der Individualisierung im Feminismus etwas entgegensetzen. Es geht uns nicht darum, prominente, herausragende Personen zu präsentieren, sondern zu sagen: Es gibt keine Einzelperson, die alle Antworten hat, aber gemeinsam ist es möglich, Alternativen zu entwickeln.

STANDARD: Wenn zentrale feministische Errungenschaften wie das Recht auf körperliche Selbstbestimmung von Rechten wieder infrage gestellt werden, bleibt dann überhaupt Raum für Utopien?

Mohanty: Ich denke, es ist immer eine Herausforderung, Räume für utopisches Denken zu schaffen. Das ist nichts, was von selbst passiert, es erfordert enorme Anstrengung. Aber gerade angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen ist es besonders wichtig, als Feministin diese Anstrengung zu unternehmen. Mit dem Aufstieg der Rechten erleben wir auch Umdeutungen zentraler politischer Begriffe und Narrative, selbst das Konzept der Menschenrechte hat heute eine andere Konnotation bekommen. Das ist eine große ideologische, intellektuelle Herausforderung, vor der wir stehen.

STANDARD: Zugleich entwickelt sich aber auch eine globale feministische Bewegung gegen Gewalt an Frauen, die Idee des Frauenstreiks wird neu belebt.

Mohanty: Ja, in den USA, wo ich seit mittlerweile vierzig Jahren lebe, sind im vergangenen Jahrzehnt ganz neue Bewegungen entstanden, die sich klar antirassistisch positionieren und wo schwarze Feministinnen, queere und Trans-Personen an vorderster Front kämpfen. Natürlich braucht es nach wie vor Kritik an einem weißen Feminismus – die gesellschaftlichen Machtstrukturen haben sich schließlich wenig verändert: Wer hat Zugang zu Machtpositionen, und wessen Stimme wird gehört? Eine Eve Ensler ist nach wie vor präsenter als eine Tarana Burke. Dennoch zeichnen sich sehr positive Entwicklungen ab.

STANDARD: Sie betonen immer wieder die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit über Generationen hinweg. Erleben Sie auch hier einen Aufbruch?

Mohanty: Ja, es ist aktuell zu beobachten, wie Aktivistinnen die theoretische Vorarbeit früherer Generationen in die politische Praxis umsetzen. In der dezentralen "Black Lives Matter"-Bewegung wurde beispielsweise die queer-feministische Kritik an maskulinistischen Strukturen, an Führerfiguren sehr ernst genommen. Wenn wir uns hingegen die Alt-Right in den USA ansehen: Dort geht es immer um charismatische, männliche Anführer. Feministische Politik hingegen muss ihren Fokus auf kollektive Formen von Wissensproduktion, von Widerstand und Verantwortlichkeit legen. Auch in der Bürgerrechtsbewegung hatten wir charismatische Führungsfiguren wie Martin Luther King. Dass wir nun nicht mehr nach solchen suchen, ist ein historischer Umbruch.

STANDARD: Unter dem Stichwort der Identitätspolitik wurde in den USA nach der Wahl Trumps auch darüber gestritten, ob Feminismus oder Bewegungen wie Black Lives Matter die soziale Frage hintangestellt und damit den Aufstieg der Rechten befördert hätten.

Mohanty: Das halte ich für ein Ablenkungsmanöver. Und überhaupt: Was betreibt die Rechte, wenn nicht Identitätspolitik? Ich würde aber eine Unterscheidung treffen zwischen Identitätspolitik und einer Politik der Identitäten. Identitätspolitik kann durchaus selbstreferenziell und ausschließend werden. Und Identitätspolitik wurde durchaus neoliberal vereinnahmt, etwa wenn einige wenige prominente schwarze Feministinnen eine Bewegung repräsentieren sollen. Identitäten sind aber eine politische Realität – haben weiße Arbeiter denn keine Identität? Das zu behaupten wäre lächerlich. Eine Politik der Identitäten nimmt Menschen in all ihren Facetten wahr, sie hilft dabei, gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen und uns positionieren.

STANDARD: Solidarität ist ein ganz zentraler Begriff in Ihrer wissenschaftlichen und auch in Ihrer politischen Arbeit. Was zeichnet die transnationale feministische Solidarität aus, von der Sie sprechen?

Mohanty: Solidarität unterscheidet sich für mich von politischen Allianzen, es geht um tiefergehende Partnerschaften und gemeinsame Ziele, die abseits der eigenen Interessen erst entwickelt werden müssen. Und das grenzt sich klar ab von einem Modell der "weißen Retter". Wir müssen uns aber auch gegen eine Kommerzialisierung, eine neoliberale Idee von Solidarität wehren. Heute kann man in jedem Laden ein Armband oder eine Hundemarke kaufen, mit der man zugleich 15 Cent an ein Frauenprojekt spendet. Eine radikale Version von Solidarität bedeutet aber, dass ich mir bewusst werde, wie mein eigenes Leben auf so vielen Ebenen mit anderen verbunden ist und welche Machtverhältnisse dahinterstehen. Das ist nicht selbstverständlich, sondern erfordert sehr viel Arbeit. Ich bin eine Frau, du bist eine Frau, wir erleben beide Gewalt, also sind wir solidarisch verbunden – so einfach ist es nicht.

STANDARD: Sie haben 1984 Ihren berühmten Aufsatz "Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses" veröffentlicht, in dem Sie die koloniale Perspektive auf "Dritte-Welt-Frauen" kritisieren. Die Studienpläne und Literaturlisten in der Frauenforschung beziehungsweise in den Gender Studies haben sich seither maßgeblich verändert. Gilt das auch für eine globale feministische Wissensproduktion?

Mohanty: Wenn ich auf die Mitte der 1980er-Jahre zurückblicke, dann hat sich mit den Generationen feministischer Wissenschafterinnen auf jeden Fall etwas verändert. Feministische Theorie ist in gewisser Weise vielstimmig geworden, es gibt nicht mehr den einen dominanten, weißen Blick auf die Welt. Wir haben Zugang zu so vielfältigem Wissen, das ist einfach großartig. Allerdings sehe ich nicht, dass sich auch die Institutionen strukturell verändert, sich dekolonisiert hätten. Wir sind in den Gender Studies nach wie vor mit institutionellen Hierarchien konfrontiert, die seit Anbeginn bestehen. Besonders in Europa überrascht mich das immer wieder. In Ländern wie Deutschland, Schweden, Italien sehe ich kaum schwarze Professorinnen, feministische Wissenschafterinnen of Color. Eine Kritik an Wissensproduktion und Pädagogik muss also auch mit einer Kritik an den Institutionen einhergehen. In den USA sind wir diesbezüglich glücklicherweise schon weiter. An meinem Institut mit neun Angestellten arbeite ich überwiegend mit queeren Menschen, Personen of Color, Migrantinnen. Das gibt uns die Möglichkeit, radikale, transnationale feministische Wissensproduktion voranzutreiben. Ohne meine Kolleginnen wäre mir das schlichtweg nicht möglich. (Brigitte Theißl, 28.6.2019)