Thom Yorke und Dajana Rocione in Paul Thomas Andersons "Anima".

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Lebensmüdes Irrlichtern am Mikrofon: Thom Yorke.

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DAS ALBUM

Irgendwo auf dem Klappcomputer von Thom Yorke ist ein Programm versteckt, das im Bedarfsfall solide, anämisch-leidensfrohe Mucke für ein klar definiertes Zielpublikum liefert. Der Mann hat mit seiner Band Radiohead einst Mitte der 1990er-Jahre gerade noch rechtzeitig auf dem Weg vom Edel-Grunge im Stile Nirvanas hin zur Erlösungskirchenschmiere von U2 eine CD von Aphex Twin und dazu einen Laptop geschenkt bekommen.

Mit der im Alternative-Rock-Genre als Meilenstein verehrten gitarrenlastigen Heulsusenmusik für nachdenkliche junge Menschen war dann 1995 ab dem Album "OK Computer" langsam Schluss mit lustig. Damals ging es vom Rockerkeller rauf in die Knöpferldreherwerkstatt. Das rohe Leiden der Jugend sollte dort mit modernster Elektrotechnik zu einem morbiden Edelstein geschliffen werden.

Thom Yorke

Abgesehen von seiner letztjährigen Soundtrackarbeit für Luca Guadagninos missglücktes Remake des Gruselklassikers "Suspiria" oder seiner kurzfristig mit Flea von den Red Hot Chili Peppers und Produzent Nigel Godrich betriebenen Supergroup Atoms For Peace handelt es sich beim Album "Anima" um Yorkes dritte Soloarbeit seit 2006.

Neudeutungen des eigenen Schaffens darf man sich vom 50-jährigen Briten auf diesem Album nicht erwarten. Yorke stellte die neuen Songs dem Regisseur Paul Thomas Anderson für dessen gleichnamigen Netflix-Kurzfilm "Anima" zur Verfügung. Für sich allein stehen die neun Stücke natürlich auch.

Holla, die Waldfee!

Wir hören in oft auf der Suche nach ihren Hooklines befindlichen "Songs" wie "Last I Heard He Was Circling The Drain", "Traffic" oder "I Am A Very Rude Person" altbewährt verquere Beats im Dreizehnsiebteltakt, die klingen, als ob jemand digitale Plastikkanister mit Stöcken bearbeitet und dazu aus einem Abflussrohr Tubatöne hervorholt. Sie schauen beim Hörer in der Magengegend nach, ob man etwas Gescheites gegessen hat. Darüber werden – jetzt rein einmal vom Sound her – sündteuer angekaufte sowjetische Dampfmaschinensynthesizer aus den Sechzigerjahren gelegt, die einst schon unsere polnischen Freunde Lolek und Bolek zum Mond begleiteten.

Thom Yorke irrlichtert am Mikrofon traditionell lebensmüde dahin. Holla, die Waldfee! Apropos, Björk. Da steht ein Duett noch aus. Am Anfang des Liedes gehen beide in verschiedene Richtungen los. Am Ende treffen sie sich in der Therapie. Sie ist manisch, er ist depressiv. Verdammt, sie haben ja schon 2000 miteinander gesungen. (Christian Schachinger, 27.6.2019)


DER KURZFILM

Man wird ihn nicht unbedingt vor dem neuen "Spider-Man" sehen wollen, sagt Paul Thomas Anderson, daher ist es den Betreibern von rund vierzig Imax-Kinos weltweit selbst überlassen, wann sie "Anima" als Vorfilm zeigen wollen. Gleichzeitig läuft das 15-minütige Musikvideo des Regisseurs von "The Master" und "Der seidene Faden" seit Donnerstag im Netflix-Heimkino ihrer Wahl. Ein PR-Stunt für den Release des neuen Thom-Yorke-Albums? Einerseits. Zugleich kann man eine Kooperation zweier so eigenwilliger Stimmen nicht als Alltäglichkeit verbuchen. In Anlehnung an ein zu Stummfilmzeiten beliebtes Format nennt sich die Arbeit leicht prätentiös "one reeler" (eine Filmrolle lang).

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Anderson ist mit Radiohead, Yorkes immer wieder maßsetzender Band, freilich schon länger verbunden. Für deren Album "A Moon Shaped Pool" (2016) hat er drei Videos produziert, Jonny Greenwood, Gitarrist der Band und für deren Klangteppiche verantwortlich, ist Andersons Hofkomponist. Eigentlich verdankt sich "Anima" jedoch Yorkes Begegnung mit dem Choreografen Damien Jalet, mit dem er die Musik des "Suspiria"-Remakes ausgetüftelt hat. Man spricht von einem "unfinished business", es gab also noch einen kreativen Rest, der nach einer Form gesucht hat.

Wegsackende Körper

Dieser Einfluss wird schon zu Beginn von "Anima" deutlich, wenn Yorke in einem U-Bahn-Waggon vor Müdigkeit die Augen verdreht. Kaum eingenickt, wird er zum organischen Teil einer dunkel gekleideten Passagiertruppe, vor der sich die roten Haltestangen besonders hübsch abheben. Alle bewegen sich bald rhythmisch im Schlaf, wobei die Gesten – da ein abgestütztes Kinn, dort ein zur Seite abstürzender Kopf – zu Yorkes kleiner Nachtmusik einen eigenen, unbewussten Tanz bilden.

"Anima" besteht aus drei Nummern, die Anderson in ineinander übergehenden Episoden auflöst. Den roten Faden bildet ein romantisches Motiv: Yorkes Alter Ego verschaut sich in eine anonyme Frau und folgt ihr tollpatschig wie ein moderner Buster Keaton durch eine unterirdische Welt. Die Kamera von Darius Khondji reduziert die Räume auf helle Flächen, Schrägen, an denen die Tänzer mitunter wie Kaninchen hoppelnd das Gleichgewicht zu wahren versuchen.

Im finalen Teil kehrt "Anima" schließlich zu einem konkreten Schauplatz zurück. Auf dem nächtlichen Kopfsteinpflaster von Prag finden Mann und Frau zueinander. Aber nur kurz, denn wie der melancholische Song "Dawn Chorus" schon nahelegt – die Sonne geht auf, der Traum zerbirst. (Dominik Kamalzadeh, 27.6.2019)