Grafik: DER STANDARD

Geografisch besteht kein Zweifel: Das Dorf Alpbach liegt in der tiefsten Tiroler Provinz. Das Leben in diesen Regionen ist per definitionem des Onlinewörterbuchs Duden "provinziell", also: "zur Provinz gehörend; von geringem geistigem, kulturellem Niveau zeugend".

Und schon sind wir beim eklatanten Zuordnungsproblem: Alpbach, diese Metropole des Wissens, die Nobelpreisträger wie Staatenlenker jährlich zum Weltdiskurs lädt, soll provinziell sein? Mitnichten. Alpbach ist sowohl als auch: Provinz und hochartifizielle, innovative Urbanität.

Alpbach ist sicherlich ein Extrembeispiel, aber an dieser Tiroler Kleingemeinde mit ihrem European Forum Alpbach ist ablesbar, dass auch Regionen, die von ihrer Topografie her zur Provinz zählen, große Vitalität entwickeln können.

Diesem "Alpbacher Geist" in gewissem Sinne folgend ist in den letzten Jahren in vielen Gegenden Österreichs ein neues, regionales Selbstbewusstsein entstanden. Internetvernetzungen, neue Verkehrsanbindungen, bessere Mobilität, Social-Media-Plattformen und alternative Lebensphilosophien eröffnen abseits der Zentren völlig neue Chancen. Innovative Start-ups, Kreativwerkstätten, der Biolandbau, alpine Gourmetlokale, neue Sporterlebnisangebote, Wellnessoasen oder innovative Kultur- und Sozialinitiativen geben neue, innovative Impulse.

Veränderter Blick auf die Peripherie

"Ja, es ist eine ganz reale positive Entwicklung in den Regionen, die wir in den letzten Jahren beobachten. Der Blick auch der Wissenschaft auf die Peripherie hat sich verändert. Die Stadt als Zentrum der Innovation und das Land als rückständiger Rest der Republik: Das ändert sich. Wir haben mittlerweile ein viel breiteres Innovationsverständnis", sagt Michaela Trippl vom Institut für Geografie und Regionalforschung an der Universität Wien mit Spezialfach "Humangeografie Wirtschaftsgeografie". Trippl hat den Stadt-Land-Transformationsprozess einige Jahre in Schweden wissenschaftlich begleitet.

Die Arroganz der Provinzflüchtlinge

Relativ unberührt von der neuen Innovationskraft der Provinzen sitzen die Vorurteile in den Städten über "die Provinzler" aber vielerorts noch fest in den Köpfen. Der Autor Wolf Lotter hat dazu in der Juniausgabe des Wirtschaftsmagazins Brand 1 ein wenig in der Tiefenpsychologie der Provinzhasser gegraben: "Viele arrogante Städter kommen eigentlich aus der Provinz. Ihre fast schon pathologische Urbanität baut auf dem Versuch, ihre ungeliebte Herkunft abzustreifen, den Stallgeruch also. Die Hipsterquartiere der Großstädte sind voll von diesen Provinzflüchtlingen. Die größte Angst des Provinzlers in der Stadt ist es, als das Klischee erkannt zu werden, an dessen Aufrechterhaltung er selbst unermüdlich arbeitet."

Die tiefste Provinz so wie hier am Tiroler Seebensee ist wunderschön – gleichzeitig kann es auf dem Land auch zu Innovationen kommen.
Foto: Imago

Jakob Eder vom Institut für Geografie und Regionalforschung der Uni Wien hält dem Klischee der geistigen Provinzenge in einem aktuellen Forschungsbericht für die Akademie der Wissenschaften ÖAW ("Innovation ohne Agglomeration") einige plakative Fragen entgegen: "Wo werden die Leitungen entwickelt, die in Elektroautos von Tesla verbaut sind? Woher stammt eine Technologie, die Philips für seine LED-Produkte lizenziert, oder wo haben die Drohnen ihre Basis, die Kulturgüter wie den Kölner Dom millimetergenau vermessen?"

Man denke hier spontan an das kreative Umfeld von Universitätsstädten wie Wien oder Graz, schreibt Eder. Tatsächlich aber stehen die Innovationszentren in der Provinz, etwa in Poysdorf, in Jennersdorf, St. Johann in Salzburg oder Lienz.

Der Schutz der Provinz

Eder hat 95 Bezirke Österreichs mittels 18 Indikatoren untersucht, die regionale Chancen und Vorteile für Unternehmen ausloten. Dabei gaben Unternehmen unter anderem an, dass sie sich in der Provinz eher geschützt fühlen – vor Konkurrenz und Marktbeobachtung. Auch schätzen vor allem Großunternehmen, dass Widmungsverfahren beschleunigt ablaufen. Sie investieren mehr als andere in interne Weiterbildungen, sind aber vernetzt mit Universitäten. Zudem spielen "weiche Standortfaktoren" wie eine hohe Lebensqualität auf dem Land eine immer wichtigere Rolle.

"Im Grunde kann jede Region innovativ sein, jede Region hat Innovationspotenzial", sagt "Provinz"-Wissenschafterin Michaela Trippl. Und das muss sich eben nicht nur in industrieller, wirtschaftlicher Innovation äußern.

Genau diese Potenziale aufzuspüren ist das Ziel einer neuen STANDARD-Serie, die sich in den nächsten Wochen den "Chancen auf dem Land" widmen wird. In diesem Rahmen werden exzellente Beispiele vitaler Impulse aus den Provinzen Österreichs vor- und zur Diskussion gestellt. (Walter Müller, 27.6.2019)