Die Drittklässler in der Wiener Ortnergasse sprechen in einer Philosophierrunde unterschiedlichste Themen an.

Foto: Regine Hendrich

Ist das "Gedankenmeer" einmal ausgebreitet, legen die Kinder nach und nach Muscheln, Bockerln und Steine auf das blaue Tuch in der Raummitte. Es soll inspirieren, beim Konzentrieren und Formulieren eigener Überlegungen helfen. Schnell noch aufs Klo, dann steht Philosophieren in der dritten Klasse der Wiener Volksschule Ortnergasse auf dem Stundenplan.

Bernhard Köhle und seine Kollegin Monika Rinner vom Verein Wikiphilo sind zum dritten Mal hier. Die neunjährige Andjela ergreift als Erste den bunten Ball, der anzeigt, dass sie gerade am Wort ist. Sie will eine Art Stundenwiederholung machen. "Gut zuhören" und "gut nachdenken" seien jetzt wichtig, außerdem gebe es in dieser Runde nichts Richtiges oder Falsches, erklärt die Volksschülerin.

Zeit für das Thema des Tages. Sophia, die weise Stoffeule, die "Berufsphilosoph" Köhle bei den Kleinen mit dabei hat, habe sich diesmal folgende Frage ausgesucht: "Anders sein. Was ist das?" Spannend, umso mehr, als alle Kinder dieser Integrationsklasse einen sogenannten Migrationshintergrund haben, bei fünf von ihnen wurde ein sonderpädagogischer Förderbedarf ausgemacht.

Egal welche Hautfarbe

Zunächst ist wieder Andjela am Wort, bei den Burschen ist es Leonardo, der sich stets rege an der Diskussion im Sesselkreis beteiligt. Kaum einer tratscht oder stört die Runde, wenn einmal Stille aufkommt, liegt es an Herrn Köhle und Frau Wimmer, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. Gabriel, ein Bub aus einer serbischen Familie, fasst den Tenor der Klassengemeinschaft irgendwann so zusammen: "Es ist egal, welche Hautfarbe man hat. Die Eltern haben das Kind so bekommen. Fertig."

Die Philosophierrunde ist nur einer von zahlreichen Workshops, für die Schulen von der Wiener Gebietskrankenkasse eine Förderung von 3.000 Euro pro Schuljahr erhalten. Derzeit habe man 128 Kurse laufen, sagt Michael Hahn, der in der WGKK die Gesundheitsförderungsprojekte betreut, allerdings: Für das Wintersemester 2019/20 ist der Fördertopf bereits ausgeschöpft, neue Anträge werden erst wieder ab November entgegengenommen.

Schulleitungen können aus sechs Themenbereichen wählen, meist zugeschnitten auf die unterschiedlichen Zielgruppen von Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie Lehrkräften.

Glück im Alltag

Klassiker aus dem Ernährungsbereich können ebenso gebucht werden wie "Glück im Alltag" oder ein Workshop mit dem Titel "Rausch und Risiko". Hahn erklärt, die Gebietskrankenkasse verfolge mit dem Angebot zwei Ziele: Einerseits lasse sich damit Neues in die Schule holen, das nicht im regulären Lehrplan vorgesehen ist. Andererseits diene das Förderprogramm auch der Entlastung des Lehrpersonals. Weil man all das möglichst vielen Schulen ermöglichen wolle und die Nachfrage in den vergangenen Jahren stetig zugenommen habe, musste man allerdings die ursprüngliche Fördersumme in Höhe von 5.000 auf 3.000 Euro pro Standort zurückschrauben.

"Philosoph" Köhle, eigentlich systemisch-lösungsorientierter Coach mit Schwerpunkt interkulturelle Kompetenz, kommt mindestens dreimal in eine Klasse. Wenn er bei den Drittklässlern in der Ortnergasse genauer nachfragt, wie sie etwas meinen, schiebt er oft Sophia, die Eule, vor: "Die Sophia versteht das nicht", wirft er etwa ein, als ein Kind erklärt, man müsse sich einfach befreunden, wenn man irgendwo neu hinzukommt. "Wie bekommt man denn neue Freunde?", fragt Köhle dann für Sophia nach. Das ist leicht, antworten die Volksschüler: "Auf die Schaukel gehen, zusammen spielen, essen."

Köhle sagt, über das Philosophieren würden Kinder ihre argumentativen Fähigkeiten und ihre sozialen Kompetenzen verfeinern. Letztlich sei dieses Training im respektvollen Umgang miteinander eine Art Mobbing-Prävention.

Keine Einmischung

Was die Kinder ihm zurückmelden? "Ihr hört uns zu", sagt Köhle. Für ihn eigentlich ein Alarmzeichen, dass genau dieses Sich-Einlassen sowohl zu Hause als auch im Schulalltag zu kurz komme. Er sei froh über die Möglichkeit, sich vorbehaltlos den Schülerinnen und Schülern zu widmen. "Manche Lehrkräfte wollen mir die Vorgeschichte der Kinder erzählen, aber die will ich eigentlich gar nicht hören", berichtet der Coach. Die Lehrerinnen in der Ortnergasse hingegen: vorbildlich. Sie mischen sich an diesem Vormittag kein einziges Mal bei der Runde der Jungphilosophen ein.

Trotz Vorbereitung auf viele Abzweigungen, die ein Thema nehmen kann, passiere in seinen Gesprächsstunden auch immer wieder Unerwartetes, erklärt Köhle. Kinder mit Selbstmordgedanken, Jugendliche in besorgniserregenden Wohnsituationen. Nicht selten kämen große Themen beim Workshop zutage, die noch einiges an Nachbearbeitung bräuchten – aber nicht immer bekommen.

Bei den Drittklässlern in der Ortnergasse endet die Stunde harmonisch. Eine Kerze wird im Kreis gereicht, jeder soll sagen, was ihm am Sitznachbarn gefällt. "Du kannst schön malen", erklärt ein Mädchen, "du bist immer nett", lautet ein anderes Kompliment. Wenn einer nicht weiterweiß, warten die anderen geduldig. Bis am Ende "Ich mag dich" kommt. (Karin Riss, 28.6.2019)