Bachmann, schau oba: Die Jury der diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur fiel durch teils recht kleinliche Diskussionen auf. Im Vordergrund: Katharina Schultens.

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Immerhin. Am zweiten Tag hatten die 43. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ihren ersten Höhepunkt: Ronya Othmanns Vierundsiebzig. Die Autorin, geboren als Tochter eines Jesiden und einer Deutschen in München, reiste zu Verwandten in den Irak. Sie versuchte, die Berichte, Fotos, das Schweigen und die Verzweiflung nach dem Völkermord, den der IS dort an den Jesiden beging, in Sprache zu fassen.

Es ist ein harter Text. Beinahe auf jeder Seite wird geweint. Und auf den ersten Blick wirkt es unfair, hier einen Text herauszuheben, der schon qua seines Themas starke Emotionen und vielleicht auch eine gewisse Scheu, ihn zu kritisieren, weckt. Aber das ist es nicht. Denn Othmanns Text legt eine Dringlichkeit an den Tag, sowohl was seinen Inhalt als auch den Umgang mit der Sprache betrifft, die bei diesem Wettbewerb bis dahin fehlte.

Die österreichische Autorin Sarah Wipauer las am Donnerstag.
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Eröffnet wurde er am Donnerstag von der in Berlin lebenden Katharina Schultens mit Urmünder. Ein rätselhafter Text über alternative Fortpflanzungsmethoden in einer nicht allzu fernen Zukunft. Futuristisch auch Raumstation Hirschstetten der Wienerin Sarah Wipauer. Tauchten im ersten Text Chimären auf, sind es in diesem Gespenster, die sich auf einer Raumstation wiederfinden.

Umgang mit NS-Zeit

Der Wod der Schweizerin Silvia Tschui und Unweit vom Schakaltal der Kärntnerin Julia Jost setzen sich, aus unterschiedlichen Perspektiven, mit der NS-Zeit auseinander: Tschui erzählt die Geschichte zweier Brüder während des Kriegs, in Josts Erzählung wird, weit in der Nachkriegszeit, ein Kind durch ein Messer mit der Gravur "Meine Ehre heißt Treue" getötet. Verroht und grausam sind die Kinder in beiden Texten, auch wenn der Tonfall bei Jost ein fast flapsiger, manchmal sehr lustiger ist. Erst der letzte, ein wenig umständliche Text, Andrea Gersters Das kann ich, landet ganz im Heute, erzählt vom Generationenkonflikt zwischen einer Großmutter und ihrer Schwiegertochter, der Angst, den Enkel zu verlieren, der Sprengkraft, die in unterschiedlichen Lebensentwürfen liegt.

Tag zwei beginnt mit einer kühlen, sehr konzeptuell erzählten Trennungsgeschichte des Deutschen Yannic Han Biao Federer: Kenn ich nicht. Mit dem Leben in prekären Verhältnissen und neuen Arbeitswelten setzt sich die Salzburgerin Birgit Birnbacher in Der Schrank auseinander, einer der besseren Texte, der zudem anschaulich zeigt, wie blasenhaft und von der Realität abgekoppelt diese Veranstaltung in vielem ist: Während alles ständig, sich Luft zufächernd, über die unerträgliche Hitze redet und Jurorin Nora Gomringer am zweiten Tag nach der Mittagspause ausfällt, weil ihr die Temperaturen zu sehr zusetzen, scheint in den Texten so etwas wie Wetter nicht zu existieren. Erst bei Birnbacher fallen Worte wie "Jahrhundertsommer" und "Schweiß".

Nicht, dass sich alles um den Klimawandel drehen muss – aber dass eine so massive Realität in zeitgenössischer Literatur völlig ausgeblendet wird, ist doch erstaunlich. Ein wenig enttäuschend dann der Text des im Vorfeld viel beachteten Neulings Daniel Heitzler: Der Fluch erweist sich als manierierte, eher behäbige Geschichte um einen Nachbarschaftszwist in Mexiko.

Tom Kummer über Witwer

Berührend und auf seine Art sehr dringlich schließlich der mutmaßlich in Teilen autobiografische Text des Schweizers Tom Kummer Von schlechten Eltern, der von der Trauer und Einsamkeit eines Witwers erzählt.

Und dazwischen eben Othmann, die zeigt, was Literatur, was dieser Bewerb sein kann, sein sollte: relevant, gegenwärtig. Es ist der erste Text, der wirklich zwingend ist, der einen aus der notorisch unkonzentrierten Atmosphäre im ORF-Zentrum herausholt, wo in einer Tour getuschelt, socialised, repräsentiert wird, wo kaum jemand den Texten wirklich zuhört. Der erste auch, bei dem man das Gefühl hat, er reflektiert sein Medium, kämpft um einen adäquaten Umgang mit der Sprache, um die richtigen Worte.

Der Text holte die Jury heraus aus einer bis dato recht kleinteiligen, oft kleinlichen Diskussion um einzelne Sätze und Motive, aus belanglosen Streitereien. Statt dessen ging es endlich um das, was Literatur doch, abseits von Kunsthandwerk und Effekt, ausmacht: Zeugenschaft, das Ringen um eine Sprache für das, was ist, nicht sein darf – oder sein sollte.

Die Preise werden am Sonntag vergeben. (Andrea Heinz, 28.6.2019)