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Wladimir Putin beim Interview mit der "Financial Times" in Moskau. Seine Thesen zum Liberalismus stießen in der EU auf heftige Kritik.

Foto: Reuters/Sputnik/Mikhail Klimentyev/Kremlin

Kremlchef Wladimir Putin hat unmittelbar vor dem G20-Treffen in Osaka mit einer provokanten These für Aufruhr gesorgt. In einem Interview mit der Financial Times (Paywall) sagte der russische Präsident: "Die zeit genössische sogenannte liberale Idee hat sich meiner Meinung nach einfach endgültig überlebt."

Putin verengte den Liberalismusbegriff dabei vor allem auf die Debatte um den Multikulturalismus und startete einen Frontalangriff auf die Migrationspolitik der Europäischen Union. Diese stelle mit ihrem Liberalismus die Rechte der Ausländer höher als die der eigenen Bevölkerung, behauptete er. "Töte, raube, vergewaltige! – dir passiert nichts, weil du Migrant bist und deine Rechte geschützt sein müssen", argumentierte Putin ganz im Stil der vielen rechten Parteien, die in Europa in den letzten Jahren immer stärker an Gewicht gewonnen haben – von der AfD in Deutschland und dem Rassemblement National in Frankreich über die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bis hin zur FPÖ in Österreich.

Lob für Trump

Putin dürfte bei seinem Kommentar womöglich schon das eineinhalbstündige Treffen mit US-Präsident Donald Trump im Kopf gehabt haben, der mit der Losung eines Mauerbaus gegen Migranten aus Lateinamerika im Wahlkampf sehr erfolgreich auf Stimmenjagd ging – wofür er von Putin übrigens als "talentierter Mann, der sehr genau fühlt, was der Wähler von ihm will" gelobt wurde.

In der EU hingegen stieß Putins pauschale Liberalismuskritik auf Widerspruch. Er glaube nicht, dass die liberalen Demokratien am Ende seien, meinte EU-Ratspräsident Donald Tusk. "Wer behauptet, die liberale Demokratie sei überflüssig, sagt auch, dass Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte überflüssig seien", betonte Tusk. Seiner Ansicht nach sei nicht der Liberalismus am Ende, sondern "Autoritarismus, Personenkult und Oligarchie", konterte er Putin.

Tusk zielt auf Schwächen

Tusk zielte mit seiner Polemik bewusst auf die Schwächen des politischen Systems in Russland, denn nicht nur die Probleme mit Freiheit und Menschenrechten, sondern zunehmend auch die Probleme in Sachen Rechtsstaatlichkeit sind hinlänglich bekannt. In Russland selbst wird in den Staatsmedien massiv gegen alle Liberalen Stimmung gemacht.

Die Schimpfwortschöpfung "Liberast", eine Mischung aus "liberal" und "Päderast", wird seit Jahren über die TV-Bildschirme unters Volk gebracht. Bizarrerweise vermischen die Kommentatoren dabei die Kritik an der unsozialen Politik in den 1990er-Jahren in Russland selbst mit einer Kritik am Sozialstaat in Europa, wo der Liberalismus eben nicht die reine Marktmacht bedeutet, sondern durch die Kontrolle des Staats sozial abgefedert wird.

Rechtspopulisten auf dem Vormarsch

Immerhin kann sich Putin in seiner Prognose zumindest auf den globalen Wahltrend der letzten Jahre berufen: Ob Jair Bolsonaro in Brasilien, Trump in den USA, die Rechten in Europa, Tayyip Erdogan in der Türkei oder Putin selbst in Russland: Nationalistische Rechtspopulisten, die Stimmung gegen Minderheiten machen, sind weltweit auf dem Vormarsch. Doch auch hier gibt es schon Gegenbewegungen, wie die Wahl in Istanbul zeigt.

Neu ist der Abgesang auf den Liberalismus übrigens nicht. Schon Adolf Hitler prognostizierte das Ende der Liberalen im Massenzeitalter. "Das liberale Zeitalter ist gewesen" und werde nie wiederkehren, sagte er voraus. Das war im Jänner 1945. (André Ballin aus Moskau, 28.6.2019)