Sieht wie Wahlkampf aus, ist laut ÖVP aber noch keiner: Parteichef Sebastian Kurz auf Bundesländerselfietour, etwa hier in St. Pölten auf dem Wochenmarkt.

Foto: Christian Fischer

Viel war in der Regierungskrise von der "Schönheit" und "Eleganz" der Verfassung die Rede. Im Gastkommentar vergleicht der ehemalige Grünen-Bildungssprecher und promovierte Historiker Harald Walser die Entstehungszeit der Novelle, 1929, mit der Situation heute.

Sebastian Kurz wollte also sein Mandat im Nationalrat nicht annehmen. Saß der Schmerz zu tief, dass er dort abgewählt wurde, oder handelt es sich um eine generelle Geringschätzung des Parlamentarismus? Die Frage wird von außen objektiv nicht zu beantworten sein.

Objektiv zu beurteilen ist hingegen jene Verfassung, die ein sicherer Wegweiser durch die Regierungskrise war. Bundespräsident Alexander Van der Bellen sprach von der "Eleganz und Schönheit der Verfassung", denn jeder Schritt, den er gemacht habe, sei schon vor 90 Jahren vorgesehen und verankert worden.

Starker Bundespräsident

Es scheint so, als ob die vielen Väter der Verfassungsnovelle von 1929 – Mütter brauchte es damals offensichtlich noch nicht – eine Krise wie jene nach dem Ibiza-Skandalvideo vorhergesehen hätten. Dem Zustandekommen gingen monatelange heftige Auseinandersetzungen voraus.

Dem Zeitgeist entsprechend wurde damals die Position des Bundespräsidenten markant gestärkt: Er sollte künftig durch eine Volkswahl stärker legitimiert werden, wurde Oberbefehlshaber des Bundesheers, konnte Regierung und Parlament auflösen. Die Zustimmung der Sozialdemokraten wurde dadurch erreicht, dass er sich bei den meisten Rechtsakten an Vorschläge der Bundesregierung zu halten hatte.

Seipels "wahre Demokratie"

Jetzt haben sich viele Bestimmungen dieser Verfassung bewährt. Der Bundespräsident hat seine starke Position verantwortungsbewusst und umsichtig wahrgenommen. Es lohnt sich daher, einen Blick zurück in die Zeit rund um die Beschlussfassung zu werfen – zumal vieles in der aktuellen politischen Diskussion heute an diese Zeit erinnert.

Ausgangspunkt war der Versuch des autoritären Flügels der Christlichsozialen, Österreich im Bündnis mit den Heimwehren und den deutschnationalen Parteien in einen autoritären Staat zu verwandeln. Der Parlamentarismus wurde von führenden Vertretern offen abgelehnt – auch vom Prälaten und Bundeskanzler Ignaz Seipel. Er sprach zu Beginn der Debatte im November 1928 von einer "Scheindemokratie" und diffamierte sie als "Parteienherrschaft", es drohe die "Versumpfung" des Nationalrats. Er hingegen strebte unterstützt vom autoritären Flügel seiner Partei und den Heimwehren eine "wahre Demokratie" an.

Und wie sollte die ausschauen? Seipel wollte ein schwaches Parlament, die "übermäßige Zerreißung des Volksganzen in Parteien" überwinden, Plebiszite – sogar die Verfassung sollte am Nationalrat vorbei geändert werden können – und ein entmachtetes "Rotes Wien" ohne eigenen Landeshauptmann.

Angeblicher "Volkswille"

Dass derzeit auch Kurz mit dem Parlament keine Freude hatte, ist nachvollziehbar. Immerhin hat der Nationalrat ihm und seiner Regierung das Misstrauen ausgesprochen und ihn damit aus dem Amt gewählt. Diese in der Verfassung vorgesehene Möglichkeit wurde in Österreich vom Parlament zuvor noch nie wahrgenommen. Nicht zuletzt deshalb reagierte Kurz auf seine Abwahl reichlich verschnupft: "Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende entscheidet das Volk!" Gegensatz zwischen "Volk" und Parlament? In einer repräsentativen Demokratie ist es nun einmal so, dass gewählte Vertreterinnen und Vertreter entscheiden. Dem einen angeblichen "Volkswillen" gegenüberzustellen, verkennt die Grundlagen unserer Demokratie.

Auch Seipel wurde abgewählt (1929), auch er machte nicht seine Politik, sondern das "System" dafür verantwortlich. Seipel drohte sogar damit, eine neue Verfassung mit einfacher Mehrheit vom "Volk" absegnen zu lassen. So weit sind wir heute glücklicherweise noch nicht, trotz höherer Segnungsweihen für den jungen Altkanzler in der Stadthalle.

Aufgabe des Volksvertreters

Die Annahme des Nationalratsmandats lehnte Kurz ab, er wolle "wieder stärker bei den Menschen in Österreich unterwegs sein". Das genau aber wäre die Aufgabe eines Volksvertreters, deshalb gibt es ja sitzungsfreie Wochen und Ausschusssitzungen meist nur zwischen Dienstag und Donnerstag. Genug Zeit also, um "bei den Menschen" zu sein.

1929 übrigens ging die Sache gut aus. Seipel war trotz seines erzwungenen Rücktritts im Nationalrat geblieben und hatte sich als Vorsitzender der Christlichsozialen Partei aktiv in die Verhandlungen eingebracht. Die Parteien fanden trotz großer Gegensätze, langwieriger und heftigster Verhandlungen bis um drei Uhr früh am Tag der Beschlussfassung einen Kompromiss.

Keine "faulen" Kompromisse

Kompromisse aber wurden in letzter Zeit häufig als "Reformstau" diffamiert. Das Zustandekommen der Novelle aus dem Jahr 1929 hingegen zeigt, dass parlamentarische Kompromisse durchaus keine "faulen" sein oder die ursprünglichen Intentionen ad absurdum führen müssen.

Zu einem konstruktiven Miteinander konnte aber auch diese Novelle nicht beitragen. Es folgten ein blutiger Bürgerkrieg, das Verbot aller anderen Parteien, die gewaltsame Ausschaltung des Parlaments, Zensur, Demonstrationsverbot und so weiter – das alles ein eklatanter Bruch der Verfassung.

Die nächste Verfassung begann mit dem Satz: "Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung." Sie war weder von "Eleganz" noch von "Schönheit" geprägt. Deren Repräsentanten führten Österreich in eine Katastrophe. (Harald Walser, 1.7.2019)