"Es war ein langer Weg", schrieb der Attentäter von Christchurch im Politikforum der anonymen Community 8chan kurz vor seinem Angriff. "Meme-Magie ist real." Ein anderer feuerte ihn an: "Hol den Highscore!" Auch der Schütze, der wenige Wochen später auf Besucher einer Synagoge in San Diego schoss, verabschiedete sich in "/pol/". "Ich bin hier anderthalb Jahre herumgegrundelt, und was ich gelernt habe, ist unbezahlbar", erklärte er.

Christchurch und San Diego sind nicht die ersten Ereignisse, die ein Schlaglicht auf 8chan ("Infinitechan") warfen. Schon vorher hatte die Seite den Ruf, offen für radikale Inhalte aller Art zu sein – von Nazis bis Incels. Unter dem Mantel der Unerkanntheit kann dort im Prinzip jeder fast alles posten, was er möchte, ohne Sanktionen durch Moderatoren fürchten zu müssen. Das ist das Geheimnis des Erfolgs der Seite. Entdeckt hat es ihr Gründer, Fredrick Brennan, der heute mit 8chan nichts mehr zu tun haben möchte. Tortoise hat sich seine Lebensgeschichte angehört.

Harte Kindheit

Zu sagen, er hatte eine harte Kindheit, wäre wohl eine deutliche Untertreibung. Er wurde 1994 geboren und wuchs zunächst bei seinen Eltern in einer Wohnwagensiedlung auf. Als er fünf war, ließen sie sich scheiden und er zog mit seinem Bruder und Vater weg.

Brennan leidet an einer seltenen Erbkrankheit. Eine Form der Osteoporose, die sein körperliches Wachstum hemmt und seine Knochen spröde macht. Nach der Scheidung seiner Eltern zeigte ihm der neue Freund seiner Mutter erstmals einen Computer. Videospiele wurden für ihn der erste Ausweg aus Schmerz und Langeweile. Und sie führten ihn auch in die Welt der Onlineforen, in der er erste Kontakte knüpfte und sich mit anderen über sein Lieblingsspiel austauschte.

Foto: Screenshot

Ein Gefühl der Normalität

Über dieses lernte er auch 4chan kennen. Die wohl bekannteste der "chan"-Seiten ist ebenfalls eine Versammlung von Foren zu verschiedenen Themen. Nutzer posten anonym und ohne Registrierung, sie kommentieren die Einträge anderer, bis aktuelle Beiträge von neueren verdrängt werden. In der auf diesem Wege gewachsenen Kultur zählt es als Norm, auch an radikalen und beleidigenden Postings keinen Anstoß zu nehmen.

Eine Einstellung, die man in sogenannten "Raids" auch exportiert. Dabei handelt es sich um koordinierte "Invasionen" anderer Seiten, um dortige Diskussionen zu zerstören und sich am Ärger der Nutzer zu ergötzen. Auch Brennans Gamesforum war einst Ziel. Ihm zeigte dies die destruktive Seite des Internets – und das damit verbundene Gefühl von Macht. Das Posten auf 4chan wurde sein Lebensinhalt.

Mit 14 Jahren kam Brennan in eine Pflegefamilie, wo sein exzessiver Internetkonsum eingeschränkt wurde. Doch weder eine Kinderschutzsoftware noch ein Laptopverbot konnten ihn abhalten. In einer Zeit, in der der Staat über sein Schicksal entschied, gab ihm 4chan ein Gefühl der Normalität, erklärt er heute.

Radikale Lösungen

Im Laufe der Zeit erarbeitete sich Brennan den Ruf als jener Nutzer, der stets zum Thema "Eugenik", die sogenannte "Erbgesundheitslehre", die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam und aus der die Nazis später ihre "Rassenlehre" ableiteten, postete. Brennan wünschte sich eine Art neues Nazideutschland, damit Menschen mit Behinderungen, so wie er selbst, getötet würden. In einem Essay rief er einst zur Sterilisierung von Behinderten auf, der Text wurde von der Neonazi-Website "Daily Stormer" veröffentlicht.

Sonst, so erklärt Brennan, identifiziere er sich eigentlich gar nicht mit NS-Ideologie. Als damaliger Teenager war dies allerdings sein Weg, mit den körperlichen und psychischen Schmerzen umzugehen, die seine Krankheit ihm bescherte. "Es sei nicht falsch, genetisch defekten Menschen ein Incentive zu geben, sich nicht fortzupflanzen", schrieb er damals und verstand es als Argument für "eine Welt voller gesunder, glücklicher Kinder, die draußen mit ihren Freunden spielen zu können, ohne sich die Beine zu brechen".

Lange war er zornig auf seine Eltern, die ihn aus seiner Sicht in ein schmerzvolles Leben geboren hatten. Bis heute hasst er seine körperlichen Einschränkungen, auch wenn er einen anderen Umgang damit gefunden hat.

Fredrick Brennan auf einem Foto von 2015.
Foto: Fredrick Brennan

"Gamergate" sorgte für Useransturm

Mit 18 Jahren begann Brennan, Jobs bei "Mechanical Turk" anzunehmen, einer Plattform für Vermittlung digitaler Arbeit. Dabei brachte er sich auch Programmierkenntnisse bei. Er zog nach New York und fand eine Freundin, bei der er auch nach der Trennung weiterlebte. Als er mit ihr und ihrem neuen Freund "Magic Mushrooms" einnahm, kam ihm die Idee, aus der schließlich 8chan wurde. Schon länger hatte er mit alternativen Plattformen geliebäugelt, nachdem 4chan-Admin Chris "moot" Poole überraschend zwei von Brennan oft besuchte Foren geschlossen hatte.

2013 ging die Seite ans Netz, doch großen Zulauf sollte sie erst im Jahr darauf erfahren. Die lose "Gamergate"-Gemeinde war aufgrund von "Doxxing" (dem Veröffentlichen privater Daten anderer) zuerst von 4chan und auch von anderen Portalen verbannt worden. Brennan bot seine eigene Plattform an. Die Bewegung, die sich eigentlich für mehr Ethik im Spielejournalismus einsetzen wollte, letztlich aber vor allem mit Hasskampagnen gegen von ihr verortete "Social Justice Warriors" Schlagzeilen machte, hatte eine neue Heimat.

Auch andere "Problemgemeinden" – von weißen Nationalisten bis hin zu frauenhassenden Incels – sind mittlerweile rege aktiv auf der Plattform.

Portfolio-Projekt geriet außer Kontrolle

Heute sagt Brennan, dass 8chan ursprünglich eine Demonstration seiner Programmierkünste sein sollte und er sich für die Anliegen von Gamergate gar nicht interessiert habe. Stattdessen wollte er nur sehen, was passiert, wenn viele Nutzer die Seite verwendeten und daher hisste er die Flagge der freien Meinungsäußerung, um sie bei sich zu behalten. Statt 100 Postings am Tag entstanden auf 8chan bald 10.000 pro Stunde.

Damit allerdings gingen auch einige Schwierigkeiten einher. Zunehmend plagte Brennan sich damit, Software und Server am Laufen zu halten und gleichzeitig für die Entfernung illegaler Inhalte wie Kinderpornografie zu sorgen. Die Crowdfinanzierungsplattform Patreon hatte sein Konto gesperrt, und es drohten zahlreiche rechtliche Probleme. Einige Wochen nach der Userexplosion übertrug er die Domain und Inhaberschaft der Seite an den US-Army-Veteran Jim Watkins und zog zu ihm in die Philippinen. Dort betreibt Watkins eine Schweinefarm und das Unternehmen NT Technology, das auch für den Betrieb mehrerer Pornoseiten verantwortlich zeichnet.

2016 zog sich Brennan schließlich zurück und gab auch seine verbliebene Verantwortung für die Software und die "Leitung" der Community ab. Ein Grund dafür ist auch die zunehmende Radikalisierung, die auf der Seite stattfindet. Je länger man sich dort beteiligt, desto stärker werden auch die eigenen sozialen Normen beeinflusst", meint Brennan. "Vielleicht postet man zuerst nur zum Spaß Nazi-Memes, doch irgendwann beginnt man vielleicht, diese Ideen zu absorbieren", meint er. Es sei die Anonymität der Masse, in der Menschen diese Seiten von sich zeigten. Sein Bedauern über die Entwicklung der Seite und die Folgen drückte er auch schon in einem Gespräch mit dem "Wall Street Journal" aus.

Virtuelle Plattform, realer Einfluss

Den Glauben daran, dass uneingeschränkte Meinungsfreiheit zu einem Wettlauf der besten Ideen führe, hat er mittlerweile verloren. Was er als 8chan-Admin gelernt habe, ist, dass sich am Ende die Memes durchsetzen, die am stärksten für Ärger sorgen. Das sei nicht Schuld der Technologie, denn hätte es 8chan nie gegeben, so argumentiert Brennan, wäre eine solche Gemeinschaft anderswo entstanden.

Seine einstige Seite war nicht nur Onlineheimat späterer Attentäter, sondern ist bis heute ein Katalysator für radikale Ansichten und Verschwörungstheorien aller Art. "Pizzagate" und "Qanon" wurden über solche Plattformen relevant – so relevant, dass heute regelmäßig Besucher mit "Q"-Shirts auf Veranstaltungen von Donald Trump zu finden sind. Im Wahlkampf 2016 schaffte es einen auf 8chan geborenes Meme, das Hillary Clinton mit antisemitischer Konnotation vorwirft, die "korrupteste Kandidatin aller Zeiten" zu sein, auf den Twitter-Account des nun amtierenden US-Präsidenten.

14-Jährigen, die heute in seiner damaligen Lage stecken, will Brennan Hoffnung machen. Irgendwann werde die Verzweiflung weichen, sagt er. Er tritt nicht mehr für verpflichtende Sterilisation ein, allerdings für kostenlose Gentests für Menschen mit Behinderungen, die Kinder bekommen wollen. Auch er selbst lässt sich testen, denn seine Frau und er denken über Nachwuchs nach. (red, 01.07.2019)