Eine Rundreise in Siebenbürgen von Cluj (Klausenburg/Kolozsvár) bis Schäßburg (Sighisoara/Segesvár) ruft ein besonderes Kapitel in der Holocaust-Geschichte in Erinnerung. Noch nie wurden Hunderttausende mit solch rasender Geschwindigkeit aus ihrem Alltagsleben herausgerissen, in improvisierten Gettos in Ziegeleien zusammengezogen und oft nach brutalsten Verhören nach Auschwitz deportiert, wie das nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn geschah. Die Verantwortlichen des antisemitischen Horthy-Regimes haben ihren deutschen Meistern stolz gemeldet, dass sie zwischen 15. Mai und 7. Juli 1944 mit 147 Zügen alle außerhalb Budapest lebenden, insgesamt 437.000 Juden aus der Provinz deportieren ließen. Bei seinem Prozess erklärte Eichmann: "Ohne die Ungarn wären die Deportationen nicht möglich gewesen." Die Krematorien konnten mit diesem beispiellos schnellen Tempo der Vergasungen nicht Schritt halten, sodass mehrere Öfen barsten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Beim jährlich stattfindenden "March of the Living" gehen Menschen in Erinnerung an die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden vom ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager Birkenau.
Foto: REUTERS/Kacper Pempel

Dort wurden auch sofort nach der Ankunft Kinder und ältere Menschen vergast und verbrannt, so auch meine Großeltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Vettern, insgesamt 29 Verwandte aus Parajd (Praid), Erdoszentgyörgy (Sângeorgiu de Padure) und anderen benachbarten Dörfern des Szeklerlandes, des traditionsreichen ungarischen Siedlungsgebietes im Herzen von Siebenbürgen. Insgesamt wurden aus dem durch den Wiener Schiedsspruch der Achsenmächte 1940 von Ungarn wiedergewonnenen (durch den Trianon-Vertrag 1920 verlorenen) Nordsiebenbürgen damals 160.000 Juden nach Auschwitz deportiert.

Nachteil einer doppelten Minderheit

Das Schicksal dieser Menschen, also auch meiner Familie (übrigens ebenso in der auch wieder Ungarn angehörenden Südslowakei), war deshalb besonders tragisch, weil sie ja seit Trianon, also zwei Jahrzehnte lang, den Nachteil einer doppelten Minderheit erleiden mussten – als Ungarn und als sich überwiegend zum Ungartum bekennende Juden. Dieses besondere Kapitel der Tragödie des ungarischen Judentums ist – trotz der Produktion von rund 16.000 Büchern, die die Library of Congress unter dem Schlagwort Holocaust verzeichnet – nur in dem bahnbrechenden zweibändigen (auf Deutsch leider nicht verfügbaren) Werk Randolph L. Brahams ("The Politics of Genocide") ausreichend gewürdigt.

Für jeden einzelnen Juden gilt immer, so der Nobelfriedenspreisträger Elie Wiesel, der selbst mit seiner ganzen Familie aus der kleinen Stadt Sighet in Siebenbürgen nach Auschwitz deportiert wurde, die Maxime: "Jude sein heißt, sich zu erinnern." Heute, 75 Jahre nach dem Massenmord durch die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz (insgesamt wurden durch Hitlerdeutschland und die ungarischen Täter über 560.000 ungarische Juden umgebracht), ist Siebenbürgen "judenfrei". Nur in Marosvásárhely (Tîrgu Mures) findet man eine der schönsten, renovierten Synagogen Europas. Allerdings besteht die Kultusgemeinde aus bloß 78 Mitgliedern bei einer Stadtbevölkerung von über 130.000 Einwohner (jeder Zweite ist Ungar). Der Präsident der Kultusgemeinde, László Dub, zeigt aber stolz die im Vorjahr aus privaten Mitteln errichteten drei Zimmer des Jüdischen Museums über die zwei Jahrhunderte der vor der Shoa fast siebentausend Köpfe zählenden Gemeinde. (Paul Lendvai, 2.7.2019)