Bestimmt ist es kein Zufall, dass die Serie Stranger Things in den 1980ern spielt: Das Grauen war nie größer. Im Fernsehen läuft Magnum, aus dem Kassettenradio tönen Madonna und Toto. Draußen tobt der Kalte Krieg, nebenan tummeln sich Vokuhila und Dauerwelle. Im Schwimmbad erteilt ein schnauzbärtiger Bademeister den Ordnungsruf, im Einkaufszentrum wird gerade Mobbing unter Kindern erfunden. Die Stadtzentren verwaisen.

Härtetest mit Küssen

Wie in den Staffeln davor bilden auch die neuen Folgen der Science-Fiction-Mystery-Teeniesoap den ganz normalen Alltagshorror nur zum Teil ab. Neben Küssen mit Zunge müssen die fünf nerdigen Freunde Will, Dustin, Lucas, Max und Eleven wieder etliche weitere Härtetests bestehen, die auch Erwachsene das Fürchten lehren würden. Das Unheimlichste an Bademeister Billy ist eindeutig nicht der Vokuhila.

Sie heißt Eleven (Millie Bobby Brown) und liest Ihre Gedanken. "Stranger Things" bildet die 1980er-Jahre ab und ist trotzdem die typischste Serie der Netflix-Generation.
Foto: Netflix

Spaß, Monster, 1980er-Nostalgie – mit dieser Mischung unterhält Stranger Things schon seit 2016. Gemessen am Rumoren in den sozialen Medien gehört die Serie zu den erfolgreichsten der Streamingplattform und somit zu jenen Produkten, mit deren Präsentation sich Netflix wertvolle Imagepunkte erwartet.

Insofern überrascht es kaum, dass die neuen Folgen noch mehr Hybrid aus Serienerzählung und Marketing sind. Wichtiger als die Handlung scheint inzwischen die Verkaufsstrategie von Stranger Things. Einen der Hauptschauplätze bildet ein neues Einkaufszentrum, das räumt Handelsunternehmen weitestmögliche Bewegungsfreiheit ein. Kaum eine Szene, in der nicht eine Marke auffällig ins Bild gerückt wird.

Trailer zu "Stranger Things 3".
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Die Monsterjagd erfolgt vor der Kulisse von Burger King, The Gap, J. C. Penney, Lovelace und Sam Goody und wird abgelöst von Shoppingeskapaden der Protagonisten. Angesichts von so viel Einkaufsglück hadert die bis vor kurzem zivilisationslose Eleven anfangs ratlos mit einem Grundsatzproblem: "Woher weiß ich, was ich mag?"

Entscheidungshilfen gibt es zuhauf – auch für unentschlossene Zuschauer. 75 verschiedene Marken kooperierten laut New York Times mit Netflix und wenden dabei durchaus findige Marketinggags an. Die Kids in der Staffel schlürfen etwa New Coke, ein Getränk, das der Softdrinkriese 1985 auf den Markt brachte und damit einen Riesenflop landete. Für die Serie wurden die Rezepte aus den Archiven geholt, 500.000 Dosen stehen zum Verkauf bereit.

Kaufrausch

Und so weiter: Die Eiskaffeekette Baskin Robbins verkauft Stranger Things-Eissorten, Burger King bietet Upside-Down-Whopper, H&M huldigt 80er-Mode, von Nike gibt es eine spezielle Sneaker-Kollektion. In den ersten beiden Staffeln spielten Kellogg's Eggo-Waffeln und Kentucky Fried Chicken prominente Rollen. Netflix betonte, beide Unternehmen hätten nichts für ihre Präsenz bezahlt. Erlöse aus den Verkäufen kommen Netflix nach eigenen Angaben ebenfalls nicht zugute. Die Marketingdeals würden ihre Bankkonten nicht füllen, sagten die Macher Matt und Ross Duffer: "Die Hoffnung ist einzig, dass die Show mehr Aufmerksamkeit erhält."

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Danach trachtet auch Netflix in erster Linie. Der Streaminganbieter steht unter Erfolgszwang. Erst zuletzt und nicht zum ersten Mal wurden Gerüchte um Werbung im Angebot laut. Netflix dementiert wiederholt.

Nichtsdestotrotz müssen 148 Millionen zahlende Kunden bei Laune gehalten werden. Elf Milliarden Dollar investiert Netflix in Serieninhalte, 2,4 Milliarden Dollar gab der Streaminganbieter laut Medienberichten für Marketing aus, rund 65 Prozent mehr als noch 2017. Wachsende Konkurrenz droht etwa von Disney. Bis 2020 wird der Medienriese sämtliche seiner Inhalte abgezogen haben, darunter alle Inhalte aus dem Star Wars- Universum sowie sämtliche Marvel-Blockbuster. Disney startet 2019 in den USA, 2020 in Europa seine eigene Abspielplattform.

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Um die Lücke zu füllen, braucht Netflix dringend Ersatz und investiert in Videospiele. Angekündigt ist etwa ein neues Smartphone-Spiel zu Stranger Things. Zum Staffelstart am Donnerstag wird ein Action-Adventure für fast alle Plattformen veröffentlicht, dessen Optik an die Spiele von Super Nintendo Entertainment System erinnert.

Als komplettes Konsumphänomen war Stranger Things schon immer gut, popkulturelle Gelüste werden nebenbei bedient. Üppig platzierte Filmzitate im Spannungsumfeld erlauben lustvolles Suchen nach und Finden von einschlägigen Quellen. Die Ausbeute reicht von Poltergeist, Shining, A Nightmare on Elm Street, Die Goonies über Tanz der Teufel und Unheimliche Begegnung der dritten Art bis zu Star Wars – alles ist drin. Die neue Staffel knüpft zarte Bande mit Dirty Dancing, Eis am Stiel und Pretty in Pink.

Zu viel Beiwerk

In den neuen Folgen könnte manchen Fans etwas zu viel schmückendes Beiwerk enthalten sein. Vom raffinierten Aufbau aus der Premierenstaffel ist im dritten Aufguss mehr der Spaß am schnellen Effekt geblieben.

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Eine vierte Staffel dürfte dennoch fix sein. Mehr als fünf stellten die Duffer-Brüder aber nicht in den Raum. Der Harry-Potter-Effekt droht – soll heißen, irgendwann sind die Darsteller dem herzigen Knaben- und Mädchentum entwachsen und bekommen ein Glaubwürdigkeitsproblem. (Doris Priesching, 3.7.2019)