Im Gastkommentar tritt Migrationsexpertin Melita H. Sunjic unter anderem für eine Entlastung des Asylsystems ein. Sie fordert: Die Aufklärung über die Gefahren der Migration muss früher ansetzen als auf dem Mittelmeer.

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Carola Rackete, der Kapitänin der Sea-Watch 3, wird in Italien Hilfe zur illegalen Einreise vorgeworfen.
Foto: REUTERS/Guglielmo Mangiapane

· Grenzschließungen als zentrales Mittel des Migrationsmanagements verringern den Migrationsdruck nicht, sondern erhöhen ihn.

Man kann nicht einfach die Grenzen und die Augen verschließen. Man muss verstehen, warum Flüchtlinge und Migranten kommen und was man tun kann, um die internationalen Migrationsbewegungen in geregelte Bahnen zu lenken.

· Je näher Migranten schon an Europa sind, desto mehr Risiken werden sie auf sich nehmen, um ans Ziel zu gelangen.

Menschen, die es bis an die Küste des Mittelmeeres geschafft haben, sind wie Marathonläufer knapp vor dem Ziel. Sie haben alles gegeben, sich auf viele Jahre verschuldet oder alles verkauft. Sie haben an Angst, Hunger und Durst gelitten. Viele sind gefoltert und sexuell missbraucht worden, mussten an diverse bewaffnete Gruppen Lösegeld zahlen, sind vielleicht sogar versklavt gewesen, waren Zeugen von Morden und Todesfällen. Die Familie zu Hause hat mitgeholfen und große Opfer gebracht und erwartet eine Kompensation.

Diese Menschen haben nur zwei Möglichkeiten: ans Ziel gelangen oder sterben. Die Aufklärung über die Gefahren der irregulären Migration muss daher viel früher ansetzen als auf dem Mittelmeer. Am besten im Herkunftsland, bevor die Menschen auf die Propaganda der Schlepper und Schleuser hereinfallen.

· Europa braucht zwei unterschiedliche Systeme, um Wirtschaftsmigration und Flüchtlinge zu managen.

Das europäische Asylsystem ist so überfordert, weil nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Wirtschaftsmigranten versuchen, ihren Aufenthalt durch Asyl zu legalisieren. Das liegt daran, dass es in Europa anders als in Nordamerika und Australien kaum Einwanderungsmechanismen für Wirtschaftsmigranten gibt.

Das Asylsystem ist darauf ausgerichtet, jenen Schutz zu gewähren, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, und es wird infolge dieser falschen Anwendung erodiert. Man kann das Asylsystem sehr schnell entlasten, indem man die Arbeitsmigration herausnimmt und separat reglementiert. Hier kann man den Bedürfnissen der europäischen Wirtschaft entgegenkommen und Arbeitskräfte mit der benötigten Qualifikation einladen, wo man sie braucht, und so lange, wie sie benötigt werden. Ein Beispiel: Früher haben Millionen junger Afrikaner einige Jahre in Libyen gearbeitet. Sie haben Geld verdient, berufliche Erfahrungen gesammelt und sind nach Hause gefahren. Davon haben sie selbst und ihre Herkunftsländer profitiert. Warum kann Europa das nicht ebenso handhaben?

· Flüchtlinge in den Erstasylländern ordentlich zu versorgen ist kostengünstiger für Europa und sicherer für alle.

Der Krieg in Syrien ist 2011 ausgebrochen. Erst nach vier Jahren kamen syrische Flüchtlinge in größerer Zahl nach Europa. Das war absehbar, denn die Erstasylländer wurden mit ihren Problemen alleingelassen. Die Geberländer stellten damals nur 30 Prozent (!) der Mittel zur Verfügung, die nötig gewesen wären, um die Menschen halbwegs adäquat zu versorgen. Hilfe gab es nur für die Allerschwächsten. Wer noch konnte, kam also nach Europa.

Hat man daraus gelernt? Nein! Im Nordirak habe ich ein Flüchtlingslager bei Sulaimaniyya besucht. Dort wird gerade die humanitäre Hilfe zurückgefahren, weil nicht genug finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Wenig überraschend denken dort viele Flüchtlinge über Sekundärmigration nach Europa nach.

· Bessere und schnellere Asylverfahren und rasche Rückführungen von Nichtschutzbedürftigen sind menschlicher und können irreguläre Migration eindämmen.

Die Qualität und die Quantität der Asylbehörden müssen ausgebaut werden. Asylverfahren dauern viel zu lange. Schutzbedürftigen sollte man schnell Asyl gewähren, damit sie sich integrieren können. Jene, die nicht schutzbedürftig sind, sollten rasch zurückgeschickt werden. Das würde in den Herkunftsländern ein Signal an andere Migrationswillige senden, dass irreguläre Migration vielleicht doch der falsche Weg ist und sich nicht auszahlt.

· Den Schleppern das Handwerk legen.

Da sind große internationale Verbrecherkartelle am Werk. Die Bezahlung der Schlepper erfolgt in den meisten Fällen elektronisch. Es gilt die alte Polizeiregel: "Follow the money!" Alle Informationen sind völlig unverschlüsselt in den sozialen Netzwerken zu finden. Wer die Schlepperei stoppen will, muss bei den Geldflüssen und den Strukturen der Kartelle ansetzen und nicht nur die kleinen Handlanger suchen, die in Europa die Lkws lenken.

· Grenzen sollen geschützt sein, aber nicht verschlossen für Schutzbedürftige, oder Europa wird seine Seele verlieren.

Die Kontrolle der eigenen Grenzen ist ein staatliches Hoheitsrecht und ein Sicherheitserfordernis. Das stellt niemand infrage. Migration muss und soll gemanagt werden, aber für Hysterie besteht kein Grund. Europa ist nicht "überschwemmt". Nur wenige Topaufnahmeländer haben bis zu 5.200 Asylwerber pro einer Million Einwohner, die meisten viel, viel weniger. Jordanien hat zum Vergleich fast 180.000 pro einer Million Einwohner.

Europa ist die Wiege der Menschenrechte und jener Kontinent, der Verfolgten immer und aus humanitärer Überzeugung Schutz geboten hat. Das ist Teil seiner politischen DNA. Manche geben heute vor, dass man den Charakter Europas nur dann schützen und erhalten kann, wenn man den Kontinent mit Stacheldraht umgibt und Menschen in Lebensgefahr abweist. Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Kern Europas, seine prägenden Werte und Traditionen werden auf diese Weise zerstört und durch ein System ersetzt, das mit Demokratie und Menschlichkeit nicht vereinbar ist.

Politikerinnen und Politiker dürfen nicht zulassen, dass Europa über der Migrationsfrage seine Seele verliert! (Melita H. Sunjic, 1.7.2019)