Halt, stopp, retour: Auf dem EU-Gipfel in Brüssel schien das Personalpaket rund um die Topjobbesetzungen schon fast in trockenen Tüchern. Nun aber ist wieder alles offen.

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Kompliziert, schwierig, angespannt sei die Lage, hieß es am Montag nach der Unterbrechung und Vertagung des EU-Gipfels durch Donald Tusk in Brüssel bei Diplomaten und Premierministern. Das waren noch die harmlosesten Titulierungen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach von einer Krise, die so groß sei wie zuletzt bei der Migrationswelle 2015: "Wir haben versagt", sagte er. Der polnische Premier Mateusz Morawiecki sah eine "sehr große Kluft" zwischen den Staatenvertretern. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte wunderte sich, weil er einen Deal als "sehr nahe" gesehen hatte. Nun habe er sich nicht vorstellen können, wie man sich einige.

Der Ständige Ratspräsident Tusk hatte kurz nach Mittag die Reißleine gezogen, weil sich die 28 Staats- und Regierungschefs nicht und nicht auf die Nominierung des künftigen Kommissionspräsidenten im Rahmen eines größeren "Personalpakets" von EU-Topjobs verständigen konnten.

Die ganze Nacht hatten sie in mehr als 18 Stunden diverse Vorschläge verhandelt, mit dem niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans als Nachfolger von Jean-Claude Juncker im Zentrum. Auf ihn hatten sich Macron, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Rutte und Spaniens Premier Pedro Sánchez beim G20-Treffen in Osaka am Samstag verständigt. Timmermans Hauptrivale Manfred Weber als Spitzenkandidat bei den EU-Wahlen Ende Mai war im Paket als Präsident des EU-Parlaments gleich für fünf statt wie üblich zweieinhalb Jahre vorgesehen.

Im Beichtstuhl von Tusk

Rund um die beiden hat man verschiedenste Namen und Kombinationen für die ebenfalls anstehenden Neubesetzungen des Hohen Beauftragten für die EU-Außenpolitik und auch den Nachfolger des Ratspräsidenten ab Jahresende ausprobiert. Tusk führte fast ununterbrochen bilaterale Gespräche mit den Regierungschefs unter vier Augen im "Beichtstuhlverfahren" und rief auch immer wieder zur gemeinsamen Sitzung, um die vielen Widerstände zu überbrücken. Aber am Ende war alles vergebens.

Es zeichnete sich für keine Variante Akzeptanz ab, auch nicht für den am Schluss auf dem Tisch liegenden Vorschlag: Diesem zufolge hätte die bulgarische Ex-EU-Kommissarin und interimistische Leiterin bei der Weltbank, die Christdemokratin Kristalina Georgiewa, Ratschefin nach Tusk, ebenfalls Christdemokrat, werden sollen. Belgiens liberaler Premier Charles Michel sollte Außenbeauftragter werden.

Kurz vor Mittag meldeten Agenturen bereits, dass ein "Durchbruch" trotz Widerständen der vier Visegrád-Staaten und einiger Christdemokraten, denen der Triumph Timmermans' über Weber ein Dorn im Auge war, bevorstehe. Aber plötzlich war wieder alles ganz anders: Tusk ließ seinen Sprecher per Twitter verkünden, dass er den Gipfel unterbrochen und um 24 Stunden vertagt habe. Man werde sich Dienstag um elf Uhr wiedertreffen, um einen neuen Anlauf zu nehmen. Wie konnte das passieren?

Man habe unterschätzt, dass Premiers aus dem EVP-Lager entgegen Merkels Vorgaben nicht so einfach einlenken wollten, erklärte ein Berater von Tusk hinterher. Vor allem aber "ein großes Mitgliedsland", wie die deutsche Bundeskanzlerin bei ihrer Pressekonferenz klarmachte, sei eines der Hauptprobleme gewesen.

Man habe nicht einmal abgestimmt. Keine Variante hätte die nötige Mehrheit bekommen, sagte sie, vor allem aber müsse man sich die Frage stellen, ob es klug gewesen wäre, gegen den Willen eines Landes wie Italien zu stimmen. So etwas könnte "unüberbrückbare Spannungen" für die nächsten fünf Jahre erzeugen, wenn man das übers Knie breche. Die EU-28 müssten aber in Zukunft vertrauensvoll zusammenarbeiten, betonte Merkel.

Im Klartext: Nicht nur die üblichen Verdächtigen aus Osteuropa, von Ungarns Premier Viktor Orbán bis zum Polen Morawiecki, hatten sich gegen "den Sozialisten" Timmermans quergelegt – sondern auch Italien, das mit mehr als 60 Millionen Einwohnern eine "Großmacht" in der EU darstellt.

Erst einmal ausschlafen

Warum sich diese verworrene Lage über Nacht ändern sollte, konnte die Kanzlerin nicht beantworten, die auf Timmermans und Weber beharrte. Aber sie zeigte sich optimistisch, dass man – wieder ausgeschlafen – zu einem Kompromiss kommen könnte.

Die Zeit drängt. Das EU-Parlament soll sich am Mittwoch in Straßburg konstituieren. Bis dahin sollte klar sein, wer neuer Parlamentspräsident wird und ob Weber sich bewerben soll. Österreichs Kanzlerin Brigitte Bierlein sagte, dass dies im Rat aber nicht die einzigen Einwände gewesen seien. Sie selber habe auf Frauenparität und geografische Balance gedrängt, so wie andere Regierungschefs. Sprich: Eine Frau bei drei Männern in den Topjobs sei zu wenig.

An diesem Punkt wird man unter anderem bei der Fortsetzung des EU-Gipfels ansetzen müssen. Und vor allem hinsichtlich der Balance von Frauen und Männern wird das schwierig. Denn Bulgariens Premier Bojko Borissow erklärte vor seiner Abreise, dass Georgiewa schon wieder aus dem Rennen sei. Sie war noch nie in einer Regierung, einige hielten sie daher als künftige Ratspräsidentin, die EU-Gipfel leiten soll, für nicht qualifiziert. (Thomas Mayer aus Brüssel, 2.7.2019)