Als Wiener hat man das Privileg, in der lebenswertesten Stadt der Welt zu wohnen. Das hat aber einen entscheidenden Nachteil: Man wird diesen Ort niemals als Tourist besuchen können. Das Sisi-Museum kennt man als Einheimischer genauso nur vom Hörensagen wie die Spanische Hofreitschule. Um einmal in den Genuss eines Wochenendes in Österreichs Hauptstadt zu kommen, gibt es demnach nur eine Möglichkeit: Man muss im Hotel einchecken und Tourist spielen.

Tourist spielen

Mit dem Linienflug "U4" beginnt also mein Städtetrip nach Wien. Über die App der Wiener Linien ist zwar keine Sitzplatzreservierung möglich, dafür dauert die Fahrt auch nur zwölf Minuten. Bei der Landstraße steigt eine chinesische Touristin zu, die ebenso viele Stunden im Flieger verbringen musste, um nun auch endlich in der Stadt der Habsburger sein zu dürfen. Am Karlsplatz steige ich aus, in der angeschlossenen Untergrundpassage scheint das pulsierende Herz der Stadt zu schlagen. Vor wenigen Jahren noch haben sich hier die Obdachlosen an kalten Winternächten in ihre Schlafsäcken gekauert, heute holen sich die Touristen Lattes vom Starbucks. Von hier ist es nur ein kurzer Fußweg ins gerade neu eröffnete und trotzdem altehrwürdigen Erzherzog-Rainer-Hotel. Beim Check-in zeigt sich das Personal zuvorkommend und hilfsbereit, keine Spur vom Wiener Grant – vielleicht ist man als Tourist immun dagegen. In den aufliegenden Prospekte der Stadt Wien wird das Tafelsilber vermarktet: Paläste, Kirchen, Museen, offenbar gibt es in dieser Stadt nichts, das jünger ist als ein paar Jahrhunderte.

Panoramafahrt durch das imperiale Wien.
Foto: andreas rainer

Dem zum Trotz befindet sich gleich nebenan, etwas versteckt zwar, ein hipper Kaffeeladen, in dem junge Menschen mit modernen Maschinen fair gehandelte Bohnen zu köstlichen Heißgetränken verarbeiten.

Wenige hundert Meter stadteinwärts endet das Freihausviertel, und der erste Bezirk rollt seine große Bühne vor mir aus wie einen roten Teppich. Ein Verwandter von Wolfgang Amadeus Mozart möchte mir Opernkarten für heute Abend verkaufen – auf Englisch, offenbar spiele ich den Touristen genauso gut wie mein Gegenüber die Rolle des großen Komponisten. Während der nächsten Meter muss ich öfters innehalten, zu verschwenderisch erscheint die Ansammlung historischer Pracht. Wien ist keine griechische Insel, die einen mit überirdischer Naturschönheit erschlägt, hier mussten erst Menschen Stein und Ziegel aufeinanderschichten, um einen Platz in der Weltgeschichte zu erlangen. Während ich in solchen Momenten normalerweise auf mein Handy schauen würde, schenke ich dem architektonischen Wunderwerk diesmal die gebührende Bewunderung. Alles sieht hier tatsächlich so aus wie in den Prospekten des Stadtmarketings: Wo man auch hinsieht, steht irgendeine Kirche, ein Museum oder hat scheinbar achtlos jemand ein pompöses Gebäude hingeworfen; wenn es einen Instagram-Filter mit dem Titel "Historisch" gäbe, dann wäre er hier eingeschaltet. Bei einem Wohnhaus bin ich mir unsicher, ob darin wirklich Menschen leben oder ob es sich nicht doch um einen versteckten Palast handelt.

Eine gesunde Jause.
Foto: andreas rainer

Die Wiener und das Essen (und natürlich Trinken)

An jeder Ecke werden Torten, Mehlspeisen und in Fett herausgebackenes Fleisch verkauft. Neben deftigem Essen scheinen die Österreicher besessen zu sein von Mozart und Kängurus. Der Stephansdom war in meiner Kindheit einmal die pompöseste Kirche der Erde, nach unzähligen Reisen in Länder, in denen es auch schöne Kirchen gibt, kann ich das Ganze heute besser in Perspektive setzen. Ich biege einmal rechts ab und dann wieder links, plötzlich sind die Touristenmassen weg, und ich verirre mich in den engen Gässchen, es ist fast zu schön, um wahr zu sein.

An meinem ersten Abend in Wien sitze ich mit einer Flasche Wein im Museumsquartier. Aufgrund der lauen Temperaturen könnte man meinen, an einer römischen Piazza zu sitzen, die Stimmung ist jung, ausgelassen und laut. Nur wenige Meter weiter in einer Seitenstraße treibt ein verzweifelter Wirt seine Gäste um Punkt 23 Uhr aus dem Gastgarten, weil die Nachbarn sonst wegen Lärmbelästigung die Polizei rufen.

Tag zwei

Eine asiatische Touristin schichtet beim Frühstück einen Turm aus Speck auf ihren Teller, neben den sie vorsichtig noch ein paar Würstchen platziert, auch in Fernost hat man mittlerweile die Fleischeslust entdeckt. Ich komme mit dem Kellner ins Gespräch, der, obwohl alles perfekt zu sein scheint, meint, dass es noch Verbesserungspotenzial beim Frühstück gebe. "Ausreichend" ist offenbar das höchste aller Urteile, zu dem der Wiener fähig ist. Perfektion existiert nicht, und man strebt auch nicht nach ihr, denn das wäre viel zu anstrengend.

Mit der U-Bahn geht es auf die Mariahilfer Straße, auf der ein Déjà-vu wartet, denn man könnte auch auf einer Einkaufsstraße in Dublin stehen. Ab und zu fährt ein Auto im Schritttempo vorbei, dessen Fahrer unsicher zu sein scheint, ob man hier durchfahren darf oder nicht. In einer Querstraße findet an diesem Tag das Neubaugassenfest statt. Im Angebot stehen orientalische Stickware, organische Lebensmittel und Handyhüllen. Eine Band aus Wien singt auf einer kleinen Bühne französische Lieder. Bratenduft steigt von einem Dutzend Hühner auf, die sich langsam in dem Ofen einer Fleischerei drehen. Vor ihr sitzt eine Gruppe von Männern an einem mit leeren Bierdosen beladenen Tisch, während nur zwei Meter daneben eine junge Dame einen Fruchtsmoothie bestellt. In Wien liegen die Welten nah beieinander, auch wenn sie sich gegenseitig kaum berühren.

Ein Fest für alles und jeden

Es gibt von allem ein bisschen etwas, man befindet sich auf einer ständigen Gratwanderung: Ist Wien nun cool, weil es den siebenten Bezirk gibt, oder doch altbacken, weil die Straßen auch in Neubau am Sonntag leergefegt sind? Unberührt von dieser Frage kippt der Koch am indischen Stand ein paar Meter weiter gerade einen großen Sack Tiefkühlgemüse in einen gewaltigen Wok, dazu rührt er einen halben Liter Clever-Tomatensauce aus dem Tetra-Pak. Es dauert nur wenige Sekunden, bis das gefrorene Gemüse sich mit dem heißen Rest des Essens vermischt hat, sodass man schon bald keinen Unterschied mehr ausmachen kann und alles zu einem großen Ganzen wird, so als ob der Inder eine Metapher auf die Stadt selbst singen möchte.

Impressionen vom Neubaugassenfest.
Foto: andreas rainer

Um das Tiefkühlcurry zu verdauen, braucht es eine Melange im traditionsreichen Café Jelinek, das an diesem herbstlichen Frühlingstag im Mai noch einmal den Kachelofen angeworfen hat. Menschen lesen Zeitungen und schreiben Bücher, am Nebentisch sitzt eine Familie aus Deutschland, die ihre in Wien studierende Tochter besucht. Der Vater redet über Jesus und darüber, dass er ihm den Weg weist und er nicht versteht, warum nicht die ganze Welt dem Ruf der Apostel folgt. Seine Tochter schreit ihn an, es funktioniere doch nicht einmal im Kleinen, in ihrer eigenen Familie, dass man sich versteht und zusammenhält, wie solle das dann auf einer weltweiten Bühne hinhauen? Sie stürmt auf und läuft aus dem Kaffeehaus, der Kellner nimmt es mit stoischer Ruhe hin und serviert dem zurückgelassenen Vater zum Trost eine Portion Apfelstrudel.

Klassiker: Wiener Melange.
Foto: andreas rainer

Wien ist Liebe

"Ich hab auch schon den König von Thailand bedient – aber eins sag' ich Ihnen, der hat auch nur zwei Hände und zwei Füße wie jeder andere", erklärt Wolfgang Stöger, Kellnerlegende aus der Schule des Hotels Bristol. Mittlerweile serviert er Schnitzel in der Wiener Wirtschaft, doch für ihn ist es egal, wo er arbeitet und wem er geklopftes Fleisch serviert, den Wiener Schmäh kann man nicht abdrehen. Nach dem Abendessen geht es auf den Gürtel, wo der hippere Teil der Wiener Jugend im Chelsea zu Indie-Klassikern tanzt, die zwar nicht mehr ganz aktuell sind, doch was sind schon ein, zwei Jahrzehnte in einer Stadt wie Wien? Das denken sich auch die anwesenden Herren, die den Damen altersmäßig weit überlegen sind. Irgendwann sind alle betrunken von den Wieselburgern aus der Flasche, und man grölt zu "Wonderwall" mit. Die Nacht-U-Bahn bringt mich nach Hause, neben mir knutscht ein junger Bub mit einem Mädchen. Plötzlich steht er auf, rennt zum Ausgang und dreht sich einmal noch kurz um. "Schön war's mit dir", ruft er der Zurückgelassenen zu, bevor er in der Wiener Nacht verschwunden ist und das zurückgelassene Mädchen zu weinen beginnt.

Kellnerlegende.
Foto: andreas rainer

Wien ist Liebe auf den ersten Blick, und dann wieder auf den dritten oder vierten. Es ist garstig und unwirsch, warmherzig und voller Schmäh, angeberisch schön und sträflich vernachlässigt. Es ist in einem endlosen Moment die imposanteste Stadt der Welt, nur um ein paar Augenblicke später wieder in der eigenen Melancholie unterzugehen. (Andreas Rainer, 10.7.2019)